Aktuelle Berichte von unterwegs

 

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Tromsø, 29. April 2007

 

Angekommen! In einem halsbrecherischen Manöver radelte ich am 27. April gegen 11:00 Uhr durch den drei km langen Meerestunnel, der Vardø mit dem Festland verbindet. Das war die erste mehrtägige Radtour meines Lebens, und ich glaube, auch die letzte, denn ich muss sagen: Radfahren ist nicht besonders anstrengend, aber ein bisschen langweilig. Nachdem ich das Geknarze der Schneehühner gegen Möwengekreisch getauscht hatte, ging es flott voran. Ich fuhr in sechs Tagen 500 km, und die verbleibenden 30 am letzten Tag. Nur meine Knie waren nicht von dem neuen Beförderungsmittel zu überzeugen und taten zwei Tage lang höllisch weh, bis sie sich in ihr Schicksal fügten.

Bei meinem Aufbruch in Alta wärmte die Frühlingssonne, doch oben auf den Pässen, die ich querte – Sennalandet, Børsefjell und Ifjell, lag noch Einiges an Schnee, und im Fahrtwind der Abfahrten war es ganz schön kalt. Ich hatte meist Temperaturen um 0 bis plus 3 Grad, und nachts zweimal leichten Frost. Geregnet hat es auch, aber fast nur nachts, zum Glück, denn meine Kleidung war nicht wirklich fahrradtauglich. In den niederen Lagen unter 200 m lag kaum oder gar kein Schnee mehr, Polarweide und Huflattich begannen zu blühen. Der Winterweg über die Tana war bereits gesperrt, und auf den Flüssen brach überall das Eis auf. Oben in der Höhe konnte man sicher noch wunderschöne Tagestouren machen, doch die Langtoursaison war definitiv vorbei.

Am ersten Abend zeltete ich kurz vor Skaidi und hatte meine liebe Mühe, bis ich  drei freigetaute Quadratmeter für das Zelt gefunden hatte. Mein Plan, am nächsten Morgen in Skaidi zu frühstücken, zerschlug sich, da das Hotel wegen Renovierung geschlossen war. Ein paar Lebensmittel hatte ich zwar noch, aber kein Wasser, so dass ich mit knurrendem Magen die 25 km bis zum Porsangerfjord hinunterfuhr. An einem Bach füllte ich die Wasserflaschen auf und veranstaltete auf einer Wiese ein Restefrühstück, dass ich auf dekadente 1,5 Stunden ausdehnte, so herrlich warm war es in Windstille und Sonnenschein. Es war Sonntag und die Läden in den kleinen Orten, durch die ich kam, waren geschlossen, so dass ich bis Lakselv durchfuhr, dort im Hotel übernachtete und die Einkäufe am nächsten Morgen erledigte. Am dritten und vierten Tag musste ich einige Höhenmeter klettern: Ich fuhr über den Riksvei 98 an den Fjorden entlang – Porsangerfjord, Laksfjord, Ifjord, und die Straße schraubte sich wohl ein Dutzend Mal vom Meer hinauf bis auf 100-150 m, auf dem Ifjell sogar bis auf 370 m, bis ich bei Rustefjelbma die Tana erreichte. Der Rest war leicht und flach, immer die Tana und dann den Varangerbotn entlang. Am fünften Tag fuhr ich bis Nesseby, am sechsten bis Komagvaer, knapp 30 km vor Vardø. In dieser letzten Nacht bei Komagvaer wurde es sehr windig, und mir flog fast das Zelt weg, das auf dem gefrorenen Boden nur schlecht zu befestigen war. Und so machte ich mich um zwei Uhr morgens auf zum Strand, um noch ein paar dicke Steine zu suchen. Der nächste Morgen bescherte mir dann einen zünftigen Abschied: Starkwind von vorn, Hagel und Schneeregen auf den letzten zweieinhalb Stunden bis Vardø – das Fjäll schmiss mich raus, sozusagen.

In Vardø waren die Bürgersteige hochgeklappt. Im "Nordpol", der einzigen Kneipe im Ort, wärmte ich mich bei Kaffe und Kuchen auf. Als die Wirtin hörte, wo ich herkam, rief sie gleich in der Lokalzeitung Østhavet an, und ein Reporter mit Kamera kam vorbei. Dann fuhr ich zur Festung Vardøhus hinauf. Alles zu, doch der Festungskommandant Lars Andreas Rognan (ein echter Militär, keine Museumsstaffage) sah mich durchs Fenster, schloss mir die Tore auf und führte mich durch die Ausstellungssäle. Dann machte die Festung für eine Stunde offiziell auf – für die Passagiere der Hurtigruten, die nachmittags einlief. Während ein Bienenschwarm von Touristen zur Festung herauf kam, fuhr ich mit dem Rad zum Hafen und ging an Bord. Um 17:00 Uhr lief die Kong Harald aus. Ich stand an der Reeling, bis Insel und Festung am Horizont verschwunden waren.

Gestern um Mitternacht legten wir in Tromsø an. Bei strömendem Regen fuhr ich die acht km hinaus bis zu Johns Wohnung in Kroken. Heute haben wir den obligatorischen Ausflug mit der Seilbahn auf den Fløya, den Hausberg von Tromsø gemacht. Die Sonne schien, und die Aussicht war so herrlich, dass wir gleich noch 200 Höhenmeter angehängt haben und zu Fuß bis zum Gipfel gegangen sind. Wie ich mich jetzt fühle? Schwer zu beschreiben. Glücklich und stolz, einen Traum verwirklicht und mein Ziel erreicht zu haben, und zugleich traurig, denn nun heißt es Abschied nehmen: Mein Abenteuer, mein wunderbarer langer Winter draußen in den Bergen, ist vorbei. Es war unglaublich anstrengend, und es war unbeschreiblich schön.

 

 

 

Tromsø, 20. April 2007

 

Am 16. April meldete Arne mir "Badewetter" in Hagen - 28 Grad. Der ungewöhnlichen Wärme wegen endete auch meine Skitour vorzeitig, passenderweise am "Biggesee", dem Biggejavri bei Maze, einem kleinen Sami-Dorf am Riksvei 93 zwischen Alta und Kautokeino.

Dabei hatte ich bei meinem Aufbruch aus Kilpisjaervi noch erstklassige Schneeverhältnisse. Der Wind der letzten 10 Tage hatte den aufgeweichten Harsch wieder gehärtet, dazu knackige Minusgrade (in der letzten Nacht in Kilpisjaervi minus 18 Grad) und ca. 10 cm Neuschnee in den ersten beiden Nächten machten die Sache perfekt.

Den Dienstag nach Ostern verbrachte ich noch komplett in Kilpisjaervi: Ich trampte die 5 km zum Einkaufen in den unteren Ortsteil und zurück und versuchte dann, die Bilder meiner Digitalkamera komplett zu übertragen und zu brennen. Leider machte der PC im Vandrercentrum Probleme, so dass ich irgendwann aufgab. Über den elektronischen Hickhack war es 16 Uhr geworden, und so lief ich nur 2 km entlang der E6 und bog dann nach Osten auf den Skooterweg nach Raittijarvi ab, um ca. 2 km von der Strasse entfernt am See Cahkajavri das Zelt aufzuschlagen.

Der Weg nach Raittijaervi führt durch einfaches Gelände. Ich lief am nächsten Tag mehr als 5 km in der Stunde. Es war sonnig und klar, stundenlang sah ich beim Blick nach hinten noch einmal Mosko, den Paeltsagipfel und den heiligen Berg Saana mit dem stillosen Mobilfunkmast auf dem Gipfel. Am Nachmittag sah ich eine erste größere Rentierherde, cirka 1000 Tiere, die links und rechts des Wegs die Schneedecke aufkratzten. Dann verließ ich den markierten Weg und hielt direkt auf den Pass westlich des Ahnevarri zu, über den ich am nächsten Tag an die norwegische Grenze gelangen wollte. Ich zeltete im tischebenen Delta des Flusses Ropmaeatnu und verarztete abends im Zelt die Skibindungen, deren Kabel, nach insgesamt cirka 2000 km ziemlich angescheuert waren, so dass ich sie durch neue ersetzte.

Bei Tenomuotka, einer sehr spartanischen, aber urigen finnischen Hütte erreichte ich am 12. April die Grenze. Auf die norwegische Seite zu gelangen war wegen des massiven Rentierzauns gar nicht so einfach. Es gibt irgendwo ein Tor, aber danach zu suchen hatte ich im bewaldeten und unübersichtlichen Gelände keine Lust.

Es war an diesem Tag merklich wärmer geworden, und der Schnee war im Wald so weich, dass ich eine dreiviertel Stunde die Schneise am Grenzzaun entlang wanderte, bis ich die Baumgrenze erreicht hatte. Dann bog ich nach Norden ab und folgte direkt der Grenze des Reisa-Nationalparks. Spät nachmittags sah ich eine richtig große Rentierherde. Es waren wohl mehrere tausend Tiere, die über mehrere km verteilt im Schnee nach Flechten gruben. Ich zeltete direkt am Ufer des Saitejavri und hatte am See, der die Kaltluft einfing, eine letzte frostige Nacht - minus 14 Grad. An nächsten Morgen herrschte strahlender Sonnenschein.

Mein Weg führte durch flaches offenes Gelände, zum Teil große Sümpfe, zum Teil locker mit arktischer Birke bewachsen. Obwohl die Landschaft ein wenig eintönig war, machte es großen Spaß, im flotten Schritt zwischen den Bäumen hindurch zu huschen. Ich merkte, wie gut ich inzwischen Kurs halten kann, der innere Rechtsdrall, unter dem ich normalerweise leide, wenn ich "nach Gefühl" gehe, ist fast völlig auskuriert. Obwohl mein Weg zwischen Bäumen und zahllosen kleinen Schuttkegeln und Felsen hindurch eher einem Slalomlauf glich und der Sichthorizont im flachen Gelände nur kurz war, musste ich nur selten zum GPS greifen, um den Kurs zu korrigieren.

Es war inzwischen brütend heiß geworden, und als ich nachmittags den See Raisajavri erreichte, hatte die Sonne ihr Werk getan. Der Schnee war völlig sulzig und weich. Vor der Raisjavri-Hütte veranstalteten ein paar Skooterfahrer ein Picknick. Ich sagte mein Sprüchlein auf ("I have skied all the way up to here from Lillehammer") und bekam ein schönes, kühles Bier. Ich war ganz schön strunkelig, als ich meinen Weg fortsetzte, und es war gut, dass ich ca. 4 km einem Skooterweg folgen konnte. Da konnte ich zumindest nicht verloren gehen. Zwischen Skooterweg und dem See Guorbajavri schlug ich das Zelt auf.

Am nächsten Morgen schwante mir Übles. Nachts hatte es Plusgrade gehabt, und durch die Isomatte hindurch hatte ich durch meine Körperwärme eine 20 cm tiefe Grube  in den Schnee gegraben. Der Zeltboden spannte sich richtig. Die Sonne brannte, und der Schnee war so schnodderig, dass ich gleich die Felle aufzog, um halbwegs Griff zu bekommen.

Als ich eine halbe Stunde später den Guorbajavri überquerte, sah ich zum zweiten Mal auf dieser Tour einen Vielfraß. Er wurde von einem Skooter aufgeschreckt, der am anderen Seeufer entlang fuhr, und lief in großen Sprüngen übers Eis. Ich dachte zuerst, es wäre ein Hund, der mit dem Skooter lief, so groß war er. Ganz auf das Motorgefährt fixiert, bemerkte der Vielfraß mich erst spät. Er machte eine Wendung und trabte zum Ende des Sees. Noch mehrmals sah ich ihn zwischen den Birken; zuletzt erklomm er cirka 100 vor mir einen kleinen Felswall, schaute ein paar Sekunden prüfend in meine Richtung und trabte dann über den Fluss davon. Es war wie ein Abschiedsgruss. Ich wollte es noch nicht wahr haben, doch im Grunde wusste ich an diesem Morgen, dass die Skitour beendet war.

Dem probatem Mittel bei schlechtem Schnee, der Flucht nach oben, sind in der Finnmark enge Grenzen gesetzt: Die Baumgrenze liegt bei 500 m, und die höchsten Erhebungen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bei 600 bis 700 m. Trotzdem beschloss ich, statt wie geplant durch das Flusstal des Buoggajohka, über die Höhen zu laufen. Der Aufstieg über den bewaldeten Südhang des Cuolbmannjunnas dauerte elend lange. Ich zeltete auf 600 m Höhe an einer einsamen Birke. Es war wunderschön - wenn nur der weiche Schnee nicht gewesen wäre...

Am nächsten Morgen wurde ich schon um 4 Uhr von einem Biowecker aus dem Schlaf geholt: Ein Schneehuhn hatte sich ganz offensichtlich in diesen seltsamen roten Felsen verliebt, der plötzlich inmitten dieser Schneewüste stand, und hockte gackernd und flirtend am Außenzelt, keinen halben Meter von meinem Kopf entfernt. Erst als ich mich um sechs aus dem Schlafsack schälte und zu rumoren begann, flog es schimpfend davon.

Ich lief den Höhenrücken entlang und wurde für den schlechten Schnee mit einem herrlichen Ausblick auf das Flusstal entschädigt: Im Talgrund der mäandrierende Buoggajohka und zahllose bewaldete Schuttwälle, die sich wie Rippen und Schuppen an den Hängen entlang zogen.

Die Durchquerung des tief eingeschnittenen Oberlaufs dauerte eine Stunde, ich stieg, die Pulka vorneweg und ohne Ski, in den Grund des Canyons hinab und auf der anderen Seite wieder auf. Eine halbe Stunde später konnte ich die Ski gleich ein zweites Mal abschnallen: Kein Schnee, nirgends. Ich zerrte die Pulka cirka 300 m über blanken Grund und probierte aus Neugier ein paar wieder aufgetaute Krähenbeeren vom letzten Herbst. irgendwo hatte ich mal gelesen, dass diese bitteren Dinger nach dem Frost genießbar sind (früher hat man sogar Schnaps daraus gebrannt). Sie schmeckten tatsächlich süß - und ziemlich angegoren. Jetzt weiß ich endlich, warum Lemminge so lustige Gesellen sind.

Auch wenn ich mich wiederhole, und auch wenn die Fotos wunderschön sind: Es war unsäglich und furchtbar. Ich habe während der ganzen Tour, selbst im Januar in der Femundmarka, nicht so geschuftet wie in den letzten beiden Tagen. Nachdem ich über 1600 km verletzungsfrei gelaufen war, zog ich mir nun ein wirklich übles Zipperlein am linken Schienbein zu. Bei jedem Schritt brach die Harschdecke ein, manchmal fünf Meter im Umkreis, und ein paar Kilo schwerer Sulzschnee rutschten auf die Ski, die ich dann mit viel Kraft wieder freihebeln musste. Die Kurzfelle griffen im nachgiebigen Untergrund nur schlecht, und ich wachste schließlich den gesamten Ski von vorn bis hinten mit Klister rot, was etwas Besserung brachte. Am letzten Abend trampelte ich wohl eine Viertelstunde, bis ich einen ausreichend festen Boden für den Zeltaufbau hatte.

Am 15. April, dem letzten Tag der Tour, lief ich 26 km: 10 km bis zum Skooterweg nach Maze in sechseinhalb Stunden, und dann die 16 km bis Maze in dreieinhalb. Als ich dort gegen sieben ankam, war ich völlig bedient. Doch schlimmer als die körperliche Erschöpfung war der moralische Knick: Noch gut 300 km bis Vardø, davon gut ein Drittel auf 300 m und weniger Höhe. Selbst wenn es noch einmal kälter werden würde, es war einfach Unsinn weiterzulaufen. Ich fühlte mich hundeelend und traurig und wusste einfach nicht, wie es weitergehen sollte. Ich mietete eine Hütte im Turistcenter und brütete den ganzen Abend über den Karten: Alternativrouten?, Höhenrücken? Ich erkundigte mich im Ort über den Verlauf der Skooterwege Richtung Nordost. Ich wollte es einfach nicht wahrhaben, dass alles zu Ende war, hier in einem Hüttendorf in der Einöde. Spät abends schrieb ich - per Handy über Arne in Hagen (denn ich hatte keinen Internetzugang) eine ziemlich depressive Mail an John in Tromsø. Vielleicht doch noch einmal auf die Ski steigen? Zu Fuß gehen, Rad fahren? Geht das überhaupt, mitten im April? Ich musste einfach mit jemandem reden, der die Berge kannte.

Am nächsten Tag pflegte ich meinen moralischen Kater, lief 5 km nach Vuolle-Maze zum Einkaufen und zurück, studierte Busfahrpläne und stellte mich sehr unzufrieden und traurig auf die Heimreise ein. Dann nachmittags rief John kurz an, um mich aufzumuntern, und als er abends von der Arbeit zurück war, telefonierten wir ausführlich. Um acht Uhr stand Plan B: Ich würde Rad fahren. John hatte schon einen Laden in Tromsø ausfindig gemacht, der auch außerhalb der Saison ein paar Leihräder parat hatte.

Und so packte ich die Pulka und schaffte vollendete Tatsachen, indem ich die zerschlissenen, völlig durchnässten und stinkenden Innenschuhe der Telemarkstiefel im Müllcontainer beerdigte. Kein Meter mehr auf Skiern! Am nächsten Morgen und viertel vor sechs fuhr ich mit dem Bus nach Alta, frühstückte im Hotel am Busbahnhof und stieg um 11 Uhr in den Fernbus nach Tromsø. Sieben Stunden Fahrt entlang der Fjorde. John holte mich am Busbahnhof ab.

Gestern habe ich mich in Tromsø schrittweise zivilisiert (und eine Runde Power-Shopping eingelegt). Ich wusch meine versiffte Kleidung durch, kaufte leichte Wanderschuhe und eine Jeans, und ich war, nach drei Monaten Wildwuchs, beim Friseur! Im Intersport Sporthuset lieh ich ein Mountainbike, kaufte einen Satz Ortliebtaschen (wollten wir uns sowieso schon lange anschaffen), einen Helm, einen Gaskocher und noch einige Kleinigkeiten.

Heute Nachmittag fahre ich mit dem Bus nach Alta. Weiter nach Maze wird es schwierig mit dem Rad, da nur ein Minibus verkehrt. Da die Strasse nach Kautokeino außerdem zum Teil. noch ziemlich eisig ist (sie verläuft streckenweise durch den inzwischen aufgestauten Alta-Canyon), werde ich morgen von Alta starten und mich so weit als möglich an die Küste halten: Alta, Skaidi, Olderfjord, Lakselv, Tana Bru, Varangerbotn, Vadsø, Vardø: Ca. 525 km. Ich rechne mit einer Woche. Pulka und Ski lagern dieweil bei John in Tromsø.

Ich bin sehr neugierig auf die nächste Woche, schließlich habe ich noch nie eine mehrtägige Radtour gemacht. Nach vier Tagen Pause fühle ich mich wieder halbwegs frisch, und vor allem: Die gute Laune und die Zuversicht sind wieder da. Nur das Schienbein macht immer noch Zicken, aber das ist jetzt auch egal.

 

 

 

Kilpisjärvi, 9. April 2007

 

Die Kurzzusammenfassung dieser Etappe lautet: Wind, Wind, Wind.

Während meiner Ruhetage war es extrem stürmisch, bis 28 m pro Sekunde, so dass der Skilift auf den Njuola, den Hausberg von Abisko, geschlossen war. Wegen des starken Westwindes und angekündigtem Schneefall rückte ich von meinem Plan, direkt nordwärts durch den Øvre Dividalen Nationalpark weiter zu wandern, ab. Stattdessen lief ich zunächst zwei Tage ostwärts, 50 km über den großen See Tornetraesk, und dann auf der schwedischen Seite der Grenze gen Norden.

Bei meinem Aufbruch von Abisko ging ein leichter Nieselregen, doch der Rückenwind war so stark, dass die Jacke kaum nass wurde. In fünf Stunden lief ich fast 30 km und war versucht, noch eins draufzusetzen, doch musste ich unbedingt einen geschützten Zeltplatz finden. Und so steuerte ich die Landzunge Gierbmasnjarga an, und verschanzte mich hinter der kleinen Bergnase, die an ihrer Spitze aufragt. Im Licht des Vollmonds beobachtete ich abends, wie der Wind den Schnee über das Eis fegte. Selbst vor dem Zelt bogen sich die Fjaellbirken bedrohlich.

An diesem Abend brach am Zelt das erste Gestängesegment.

Am nächsten morgen war der Wind so stark, dass ich mich einfach übers Eis treiben ließ. Die Freude über das rasche Fortkommen wurde allerdings dadurch getrübt, dass sehr viel Wasser auf dem Eis stand, umso mehr, je weiter ich mich dem Ostende näherte. Die Schuhe waren im Nu komplett durchnässt. Bei der Sami-Siedlung Laimaluokta ging ich an Land, wechselte im Windschutz eines Bootsschuppens die Socken und goss das Wasser aus den Skistiefeln; Ein schwerer strategischer Fehler. Den Versuch, von hier auf den Fahrweg zu gelangen, auf dem ich eine Skooterspur vermutete, musste ich aufgeben, denn der Schnee war derart weich, dass ich bis zum Boden durchrasselte. Also zurück aufs Eis und zur nächsten kleinen Bucht, wo der Weg fast das Ufer berührt. Dort stand dass Wasser so hoch, dass es von oben in die Schuhe lief. Obwohl es nur 200 m bis zum Weg waren, zog ich Felle auf, um voranzukommen. Jenseits des Weges war von Schnee nicht mehr viel zu sehen: die Hälfte der Fläche war bereits komplett freigetaut, und ich war froh um die Skooterspur, der ich folgen konnte, bis ich auf den offiziellen, markierten Wnterweg stieß. Hier zeltete ich auf völlig verrottetem Altschnee und hatte meine liebe Mühe, ihn mit den Skiern wenigstens halbwegs festzutrampeln. Abends opferte ich eine ganze Rolle Toilettenpapier und ließ den Kocher 2 Stunden im Zelt laufen, um die Socken halbwegs zu trocknen.

Doch danach besserte sich die Schneesituation: Ich stieg fast den ganzen nächsten Tag leicht, aber stetig an und verließ das "Wärmeloch" Tornetraesk. Auf ca. 650m Höhe erreichte ich die Baumgrenze und genoss den wunderbaren Ausblick. Im Süden der See mit den hohen Bergketten im Hintergrund.Vor mir eine weite offene Hochfläche - ein Stück schwedische Finnmark sozusagen. Der Schnee hier oben war sehr eisig, aber dafür hart und schnell.

Ich lief bis zur Schutzhütte Kamajaure, um dort zu übernachten, die Schuhe zu trocknen und das Zelt zu reparieren. Doch es hatten sich bereits drei Schlittenhund-Touristen mit ihrem Musher dort einquartiert. Das war mir dann doch etwas eng, und ich reparierte nur im Warmen das Gestänge und zeltet dann einen halben km von der Hütte.

In der Nacht drehte der Wind um 90 Grad, und es brach das zweite Gestängesegment. Am nächsten Morgen musste ich bis elf Uhr warten, bis der Wind sich soweit gelegt hatte, dass ich das Zelt wieder abbauen und den Schaden notdürftig flicken konnte. Mit dem defekten Gestänge war der Tag von der Frage geprägt, wo die Nacht verbringen? Der Wind schob mich von hinten, so dass ich locker 6 km in der Stunde lief, doch windgeschützte Lagen sind in der ausgesetzten Hochebene zwischen Tornetraesk und Rastojaure eine Seltenheit. Schließlich steuerte ich den Canyon des Ittejohka an, cirka ein km vom markierten Weg entfernt. Nach einigem Suchen fand ich eine Stelle, wo ich gefahrlos bis auf den Grund abfahren konnte. Am Fuße eines Steilhangs, der von einer mächtigen Wächte gekrönt wurde, zeltete ich bei völliger Windstille, während über mir die Wolken nach Osten jagten und der Flugschnee über den Wächtenkamm fegte.

Am nächsten morgen schien die Sonne aufs Zelt, und die Wolken zogen nur langsam, so dass ich beschloss, den markierten Weg zu verlassen und entlang des Sees Rostajaure zur norwegischen Hütte Stor Rosta im Dividalen Nationalpark zu wandern. Gegen Mittag genoss ich, bei völliger Windstille, einen ersten Blick auf das Paeltsa-Massiv in der Ferne, doch dann legte der Wind wieder los und kam nun direkt von vorn. Ich war ordentlich geschafft, als ich gegen 18 Uhr die Hütte erreichte - 29 km, davon 20 km in starkem Gegenwind. Doch schon bevor ich die Hütte erreichte wusste ich, dass ich nicht allein sein würde: In 2 km Entfernung schon nahm ich in der kalten, klaren Luft den Geruch eines Holzfeuers auf. John aus Tromsö war eine Stunde vor mir angekommen und hatte schon den Ofen angeheizt.

Abends erzählte mir John die Geschichte dieses nur ca. 15 Quadratmeter großen Hüttchens: Von einem einheimischen Jäger in den 1920er Jahren erbaut, stationierten die deutschen Besatzer hier während des zweiten Weltkriegs Soldaten. Sie sollten die Grenze bewachen, denn viele Norweger flüchteten hier im einsamen Dividalen ins neutrale Schweden. Norwegische Partisanen, darunter auch der Eigentümer selbst, sprengten die Hütte in die Luft. Nach dem Krieg erhielt er Geld vom Staat, um Stor Rosta wieder aufzubauen.

Nachts weckten uns ungeheuerliche Böen. Der Wind heulte im Kamin und rüttelte am Dach, die Balken knackten und die Wände zitterten. Ich musste an die Gautelishütte in den Narvikbergen denken, die vor 25 Jahren von einem Sturm hinweggefegt wurde, und an die neue Somashütte im Sulitjelmamassiv, die es letztes Jahr erwischte, und ich fand es sehr beruhigend, zu wissen, dass Stor Rosta schon seit fast 80 Jahren an dieser Stelle stand.

Meine Pulka, die im roh gezimmerten Windfang stand, war am nächsten morgen 10 cm hoch mit Flugschnee bedeckt, den der Wind durch die Ritzen trieb. Johns Pulka, die beladen vor der Hütte stand, und seine Stöcke waren 6 m weit gerutscht, bis sie an einer Schneewehe liegen geblieben waren. Der Wind hatte kaum nachgelassen, und so war am Karfreitag abwettern angesagt. Wir hackten im bescheidenen Windschutz der Hütte Holz, damit der Ofen nicht ausging, lasen, lösten Sudokus, die wir in einer alten Zeitung in der Holzkiste fanden und erzählten uns von unseren Erlebnissen in den Bergen. Zwischendurch bemühten wir uns, das Fenster nach Westen eisfrei zu halten, tranken Tee, schautem dem Schneetreiben zu und schlossen Wetten darüber ab, ob dass Klohäuschen bei der nächsten Bö wohl wegfliegen würde oder nicht. Es hielt stand, obwohl, wie ich später in Paeltsa erfuhr, Windgeschwindigkeiten bis 29 m pro Sekunde gemessen wurden. Das ist Windstärke 11 plus

Nachmittags ließ der Wind nach und wir unternahmen eine kleine "Gipfeltour" auf den 850 m hohen Hügel östlich der Hütte. Am nächsten Morgen waren wir nach der Zwangspause schon um 6 Uhr auf den Beinen. John wollte nur 13 km weiter bis zur norwegischen Moskohütte gehen, und da ich nach seinen Erzählungen neugierig geworden war, beschloss ich, ihn zu begleiten. Dass waren zwar fünf Extrakilometer, doch dafür würde ich danach bis Paeltsa den Wind im Rücken haben. Nach einer ausgiebigen Mittagspause in Mosko brach ich wieder auf, und John begleitete mich noch ein Stück. Die 10 km bis Paeltsa waren schnell gelaufen, nur das letzte Stück war etwas schwierig. Die Paeltsa-Hütte liegt am Oberlauf des Flusses Bealcanjohka inmitten einer eiszeitlichen Urlandschaft, mit kilometerlangen Geröllwällen, Schuttkegeln, tief eingeschnitten Bachläufen und Senken. Ich musste die Ski abschnallen und eine halbe Stunde lang klettern und schuften, bis ich endlich vor der Hütte stand. Am letzten Tag dieser Etappe wurde ich mit echtem Ostersonntagswetter belohnt. Ich frühstückte gemütlich in Paeltsa und brach erst gegen 12 Uhr auf, bei Sonnenschein und Windstille. Von der Hütte ging es direkt rund 260 Höhenmeter bergauf auf den Rücken des Duoibal, den letzten Pass vor Kilpisjaervi, dann wanderte ich über eine weite Hochebene, den markanten Paeltsagipfel immer im Blick, und fuhr durch den Birkenwald ab zum Treriksroeset, dem norwegisch-schwedisch-finnischen Dreiländereck am Westufer des Kilpis-Sees.

Ein Finne machte gerade am Grenzstein Pause, und wir fotografierten uns gegenseitig. Auf dem schwedischen Skooterweg zum Ostufer herrschte reger Verkehr, und so legte ich die letzten 10 km zum Kilpisjaervi Vandrercentrum lieber auf der gespurten Loipe auf der finnischen Seite zurück. Durch den Umweg über den Tornetraesk ist auch diese Etappe länger geworden als geplant - 172 km in 7 Tagen.

Übermorgen werde ich weiterziehen, nächstes Zwischenziel Maze, vielleicht laufe ich aber auch die 70 km bis Skoganvarre direkt durch.

 

 

 

Abisko 31. März 2007

 

Wie soll man 435 km Schwedisch-Lappland in einer Mail zusammenfassen? Vielleicht zunächst mit einem Wetterbericht: Es war viel zu warm, und ich bin inzwischen zu einer Spezialistin für das Wachsen mit Klister, dem klebrigen Tubenwachs, geworden. Einer Eingebung folgend, habe ich mich noch am Tag meines Aufbruchs in Tärnaby mit dem ganz harten Stoff für Temperaturen bis plus 10 Grad eingedeckt, und in den letzten drei Wochen habe ich reichlich Gebrauch davon gemacht.

Doch das Hoch hatte auch seine guten Seiten. Zum einen hatte ich den Wind, der von Süden blies, stets im Rücken, und vor allem hatte ich zur Abwechslung mal gute Sicht. Im Vindelfjäll herrschte noch mystischer Nebel, der sich nur minutenweise lichtete, im Ikkesvagge erhaschte ich erste Blicke auf die Berge, und die für Starkwind berüchtigte Passhöhe des Gailavagge im Padjelanta erreichte ich am 21. März bei Windstille und strahlendem Sonnenschein - der erste Pass mit Fernsicht seit Blåhammaren im Jämtland Mitte Februar!

In Tärnaby hatte ich Proviant und Brennstoff für drei Wochen zugeladen und merkte beim Aufbruch gleich, dass die Pulka 12 kg mehr wog als üblich. Die Überquerung der langen Hängebrücke über den Umeåelven wurde zu einem spannenden Balanceakt, und der nachfolgende Aufstieg aufs Gurkfjäll war richtig heftig. Ich beging den Fehler auf den ersten 2 km einem Weg zu folgen, der für Skooter gesperrt war, andere Skifahrer (ich erwähnte es bereits) waren nicht unterwegs, und das bedeutet weichen Tiefschnee im Birkenwald bei 15% Steigung.

Am nächsten Tag erreichte ich die Syterstugan, eine der Hütten am südlichen Kungsleden. Es war erst 14:00 Uhr, doch an der ersten STF-Hütte seit 600 km konnte ich einfach nicht vorübergehen. Zum ersten Mal kam ich in eine Hütte, die bereits vorgeheizt war und ich traf, man glaubt es kaum, die ersten Skiwanderer, zwei Schweden auf Hüttentour zwischen Ammernäs und Hemavan. Und außerdem lernte ich Morgan Karlsson alias "Mr. Syter" aus Storuman kennen, der schon seit 17 Jahren Hüttenwirt auf Syter ist und mir noch einige gute Tipps für die nächsten 60 km gen Norden geben konnte.

Abends zeigte mir Morgan den Gästebucheintrag des Norwegers Oyvind Töfte, der 2003 den norwegischen Klassiker Lindesnes-Nordkap gegangen ist (ca. 2600 km). Start in Lindesnes an der Südspitze Norwegens am 2. Februar, Ankunft Syterstugan 3. März. Das ist ein Schnitt über 30 km vom ersten Tag an! Ich war tief beeindruckt. Manche Menschen gehören einfach zu einer anderen Spezies.

In Tärnasjön, der nächsten STF-Hütte machte ich am nächsten Tag meine Mittagspause und erfuhr Neues vom Franzosen, der dort zwei Tage vorher übernachtet hatte: Seine Pulka wiegt 80 kg, es ist seine allererste Tour in Skandinavien und er will gleich zum Nordkap. Der Hüttenwirtin erzählte er, dass er den Kungsleden bis Aktse und dann via Rapadalen und Ruotesvagge nach Ritsem gehen wolle. Jemandem, der noch nie im Sarek war zu erklären, warum das, milde ausgedrückt kühn, um nicht zu sagen dumm und gefährlich ist, würde an dieser Stelle zu weit führen. Wer den Sarek kennt, weiß, was ich meine.

Ich selbst bog in Tärnasjön vom Kungsleden ab, hielt stracks nordwärts auf das Vindelfjäll zu und verbrachte die Nacht in Skidbäcken, einem winzigen gemütlichen Hüttchen, das von der Provinzverwaltung Västerbotten unterhalten wird. Der Ofen war so überdimensioniert, dass es binnen Minuten 25 Grad warm wurde und ich direkt das Fenster aufriss, um nach frischer Luft zu schnappen. Nachts rüttelte der heftige Südwind am Kamin, und bei plus 5 Grad rutschte der Schnee mit lautem Klatschen vom Dach.

Am nächsten Tag erreichte ich nördlich von Dalavardo die weite, sumpfige Ebene des Vindelvagge und schaffte noch ein gutes Stück des ersten Aufstiegs ins Vindelfjäll. Ich schlug das Zelt bei guter Sicht auf, doch am nächsten Morgen gegen acht zog es zu. Ein fieser, fahler Nebel behinderte die Sicht, angesichts der einschüchternden Canyons des Vindelälven und seiner Nebenflüsse keine angenehme Situation. Um das gefährliche Terrain weiträumig zu umgehen, nahm ich einige Höhenmeter in Kauf, querte den Fluss an einer flachen Stelle und lief über mehrere Höhenrücken, wo das Gelände einfacher war. Doch hoch oben auf dem Rücken des Aldatjåkka, nur 5 km und 500 Höhenmeter Abfahrt von der Laisstugan im Tal entfernt, war Ende. Der Wind nahm stark zu und die Sicht war gleich Null. Bei solchem Wetter ist es in unmarkiertem Gelände lebensgefährlich, auch nur einen Schritt zu tun, von Abfahrten gar nicht zu reden. So schlug ich das Zelt auf und schaufelte ringsum 40 cm Schnee an, denn ich hatte an dieser ausgesetzten Stelle keinerlei Windschutz. Über Nacht nahm der Wind weiter zu und drehte um 90 Grad - für ein Tunnelzelt keine bekömmliche Situation, da das Gestänge zu stark verbogen wird und brechen kann. Gegen vier Uhr morgens kroch ich hinaus, um seitlich einige zusätzliche Sicherungen anzubringen. Ich konnte kaum stehen, und der Wind riss mir fast die Schneeschaufel aus der Hand. An Aufbruch war am nächsten Morgen nicht zu denken, und so döste, aß und las ich den ganzen Tag, während das Zelt langsam vom pappigen Neuschnee einbetoniert wurde und begab mich schließlich an eine meiner geistigen Dauerbaustellen, die Übersetzung eines meiner Lieblingsgedichte von Osip Mandelstam, "Dano mne telo". Das vorläufige Ergebnis (nicht halb so schlicht und elegant wie das russische Original) lautete wie folgt:

 

Hab` einen Körper, was soll er mir sein,

So ganz und eins und so unendlich mein?

 

Die stille Freud, zu atmen und zu leben,

Sag, wem hab ich den Dank dafür zu geben?

 

Ich werde Gärtner und auch Blume sein,

In diesem Weltgefängnis bin ich nicht allein.

 

Mein warmer Atem legte sich bereits

Als Schleier auf das Glas der Ewigkeit.

 

Und bildet dort ein Muster, wunderbar,

Das noch vor kurzem nicht zu sehen war.

 

Mag auch das Sediment des Augenblicks vergehen -

Geliebtes Muster bleibt in Ewigkeit bestehen.

 

Dann war aber der poetischen Anwandlungen genug, denn gegen 15:00 Uhr klarte es auf, der Wind ließ nach, und obwohl es für einen Aufbruch eigentlich schon zu spät war, handelte ich kurz entschlossen. In der Rekordzeit von 15 Minuten belud ich die Pulka, schaufelte in 40 Minuten Schwerstarbeit das Zelt frei und verstaute es in reichlich chaotischem Zustand auf dem Schlitten. Dann fuhr ich wie der Blitz die 500 Höhenmeter zur Laisstugan hinab. Abends in der Hütte inspizierte ich sorgfältig alle Gestängebögen: kein Riss, nichts. Ich staune immer wieder über dieses Zelt.

Auch am nächsten Tag war die Sicht nur mäßig, doch trotzdem war es wunderschön. Der zweite große Pass durchs Vindelfjäll stand an, dieses Mal auf einem markierten Weg, was die Sache erheblich vereinfachte. Nach dem erzwungenen Ruhetag lief ich die 500 Höhenmeter hinauf zum Dadtjatjåkkå und 25 km Strecke an einem Tag!

Als ich, im Nebel natürlich, die Passhöhe erreichte, hörte ich von hinten ein Motorengeräusch. Ein Sami auf seinem Skooter, höchst verwundert, mich so alleine anzutreffen, fragte mich nach meinem Woher und Wohin und sagte dann den Satz, den ich schon zu Genüge kenne: "Du bist zu früh, du musst im April kommen“. Dann versprach er, mir eine schöne Spur bis hinunter ins Tal zu ziehen und fuhr davon. Die Abfahrt über die schneebedeckten Hänge des Datjatjåkkå war ein Heidenspaß; ich nahm die Wintermarkierungen in blitzsauberem Slalom. Im Tal angekommen, ging ich noch ein Stündchen weiter, um diesen großartigen Tag mit dem 1000. km dieser Tour zu beschließen. Selbst der Regen, der abends auf das Zelt niederging, konnte meine Laune nicht trüben. Beim Kochen veranstaltete ich ein kleines Konzert. Gleich dreimal hintereinander sang ich Brechts Lied von der Einheitsfront, dann das Lied von der Moldau und die Ballade von Mackie Messer. Dann ging ich von der politischen Abteilung zur Folklore über und übte mich im Joiken, dem traditionellen samischen Kehlgesang. Dies misslang gründlich, denn ich habe zwar Henning Boetius` Roman "Joiken" gelesen, doch gehört habe ich es nie und wusste deshalb nicht so recht, wie es sich anhören muss. Immerhin klang es so schrecklich, dass selbst der Regen zehn Minuten angstvoll innehielt.

Am nächsten Vormittag stand, nach dem 1000. km, das nächste symbolträchtige Ereignis an. Bei Vuoggatjålme überschritt ich den Polarkreis - an einem denkbar unromantischen Ort: "Camp Polarcirkelen", eine Tankstelle an der Landstrasse mit einem angeschlossenen Campingplatz der ungemütlichen Sorte. Da Wochenende war, brausten die Skooterfahrer im Minutentakt an mir vorbei, doch diesmal war ich richtig froh darüber, den sie plätteten den unglaublich sulzigen Schnee.

Im Vergleich zur Durchquerung des Vindelfjälls war der restliche Weg bis Pieskehaure der reine Spaziergang. Ich lief die rund 80 km durch das malerische Seldjutvagge, das Ikkesvagge und über den Mavas-See in drei Tagen, das Wetter besserte sich stetig und ich stellte zum wiederholten Male fest, dass man, anders als die harten Kerle glauben, keineswegs in den Sarek gehen muss, um spektakuläre Berge zu sehen. Das Sulitjelma-Massiv mit seinen vergletscherten Gipfeln war der höchste, doch fast noch besser gefiel mir der kuriose Gipfel des Akaris bei Mavas.

In der STF-Hütte Pieskehaure legte ich einen Ruhetag ein und traf ein bekanntes Gesicht - Marianne Mayer aus Gällivare, die Jahre lang Hüttenwirtin in Teusajaure auf dem Kungsleden war, tat dieses Jahr Dienst in Pieskehaure. Als ich ankam, hatte sie gerade die Sauna vorgeheizt. Luxus pur! Mariannes Kommentar zu meiner Tour: "Du bist ein fleißiges Mädchen."

Die Tage durch die großen Nationalparks - Padjelante, Sarek, Stora Sjöfallet, waren einfach nur ein Traum. Ich lief bei Windstille und Sonnenschein durchs Galiavagge, und als ein Sarekmaniac konnte ich nicht widerstehen: Ab Staloluokta ließ ich die Padjelantahütten links liegen und lief direkt die Grenze zwischen Sarek und Padjelanta entlang, mit grandiosen Blicken auf die mächtigen Sarektäler und -gipfel. Vor lauter Staunen merkte ich kaum, wie ich lief und lief, und so kam es, dass ich die ganze Strecke von der Rentierwächterhütte am Miellädnå bis zur Akkastugan an einem Tag zurücklegte - 37 km.

Danach wurde es ein bisschen langweilig - und richtig warm. 13 km über den großen Stausee Akkajaure nach Ritsem (und die erste Dusche seit zwei Wochen); am nächsten Tag 20 km Schotterpiste entlang der Stromleitung vom Kraftwerk Ritsem bis zum Sitausjaure und nachmittags noch mal 10 km gen Hukejaure, bis ich am späten Nachmittag im Sulzschnee buchstäblich stecken blieb. Am nächsten Tag brach ich früh auf, um dem Sulz zu entgehen, und ging, auf der Suche nach trockenem Schnee, "haute route". Statt flach über die Seenplatte zwischen Hukejaure und Alesvagge zu laufen, erklomm ich den 1200 m hohen Pass zum Muorahisvaggi. Die Mühe lohnte sich, denn ab 900 m war der Schnee richtig gut. Ich zeltete bei völliger Windstille auf der Passhöhe.

Das Alesvagge und der Abisko-Nationalpark sind notorisch schneearm, und die Sonne tat das Übrige. Das letzte Stück auf der "Kungsledenautobahn" Alesjaure-Abiskojaure-Abisko war schneemäßig ein Graus. Sulz, Faulschnee im Birkenwald, große schneefreie Flächen im Gelände, Schmelzwasser auf den Seen und offenes Wasser auf dem Fluss. Die Hütten auf diesem populären Kungsledenabschnitt waren überfüllt, und am letzten Tag hätte ich am liebsten gezeltet, was aber im Nationalpark verboten ist. Und direkt an der Nationalparkgrenze führten an diesem Tag gleich zwei Rettungshubschrauber Übungsflüge durch und veranstalteten einen Heidenlärm, so dass ich dann doch bis zur Abiskohaurestugan weiterzog.

Die 14 km bis Abisko lief ich am nächsten Tag, von starkem Südwind unterstützt. In zweieinhalb Stunden, unterbrochen durch ein einstündiges Sonnenbad auf einer der Brücken über den Abiskojåhkå. Unten im Tal lag so wenig Schnee, dass ich die Pulka das letzte Stück zur Fjällstation tragen musste.

In Abisko lege ich jetzt die üblichen zwei Ruhetage ein - mit Halbpension, ich bin mal so richtig faul. Einziger Wermutstropfen: Das Paket aus Hagen, in das Arne noch die Haarschneidemaschine gestopft hat, ist nicht angekommen, und so wird meine Mähne weiter wuchern bis Vardö (das war jetzt ein Stabreim, ich werde wirklich langsam poetisch). Am 1. April geht es weiter gen Kilpisjärvi. Und es ist Wetterbesserung in Sicht: Ab Sonntag stabile Minusgrade im Kahlfjäll; am Dienstag sogar bis minus 11 Grad; und 5 bis 8 cm Neuschnee in den nächsten drei Tagen.

 

 

 

Tärnaby, 8. März 2007

 

Anders als die blutrünstigen Wallander-Krimis vermuten lassen, ist Schweden das wahrscheinlich friedlichste Land der Welt. Speziell im Jämtland ist nicht so viel los, und so war meine Unternehmung eine Nachricht wert. Am Samstag kam zum Frühstück eine Reporterin von Sveriges Radio Jämtland vorbei; und am Sonntag, als ich mich bereits auf dem Skooterweg entlang der Strasse befand und gerade wieder in die freie Wildbahn abbiegen wollte, passten mich, von meinem Vermieter Lars Olsen auf meine Spur gesetzt, zwei Reporter von Läns tidene ab, die mich interviewten und Grossaufnahmen von meinem lädierten Gesicht schossen.

Die Medienpräsenz hat sehr lustige und angenehme Folgen. Ein Samifrau, die mir auf ihrem Skooter auf dem See Stor Blasjön entgegen kam, fragte gleich: "Hej, wie geht es deinem Gesicht?" Wenn ich sage, dass ich zu Fuß aus Lillehammer komme, werde ich gleich auf einen Kaffee eingeladen, und der Hinweis, dass ich noch bis Vardö gehe, hilft, sich beizeiten loszueisen.

Langsam stelle ich mich auf das schwedische Tempo ein. Als ich in Gesprächen mit dem Wort "Gäddede" mehrfach auf Verständnisschwierigkeiten stieß, fragte ich Siv Olsen, wie es denn nun betont würde, `Gäddede` oder Gädd`ede. Ihre salomonische Antwort war: "Du kannst beides sagen, aber wir sagen es nicht so schnell".

Im Systembolaget, dem staatlichen Monopolgeschäft für Alkoholika, stand ich 40 Minuten in der Schlange, um eine am Vortag bestellte Flasche Wein abzuholen. Ich fühlte mich an meine Studienzeit in der Sowjetunion erinnert, mit dem erheblichen Unterschied, dass in dieser Schlange beiderseits der Ladentheke ausnehmend gute Stimmung herrschte. Vor zwei Monaten hätte mich das wahrscheinlich genervt, doch als ich mir da so die Beine in den Bauch stand, spürte ich plötzlich, wie ein tiefer innerer Frieden einkehrte. Wie sagte noch der Tankwart von Gäddede zu meiner Tour - "It´s good for your soul". Recht hat er.

Und so war auch mein Aufbruch aus Gäddede gemütlich, da mich Lars und Siv noch auf einen Sonntagskaffee einluden. So wurde es Mittag bis ich loszog, und das Tagesziel war entsprechend bescheiden, 10 km und die knapp 400 m Aufstieg vom Ort bis auf den nächsten Bergrücken.

Anlass sich eine Erkältung einzuhandeln, gab es in den letzten Wochen reichlich, allein, es fehlte in Kälte und Einsamkeit an Gelegenheiten, sprich den Viren und ihren Überbringern. In Gäddede, einem jämtländischen Ballungszentrum mit immerhin 600 Einwohnern, hat es mich dann erwischt. Der Aufstieg am ersten Tag forderte mich ganz schön, und auch an den nächsten drei Tagen waren die Beine sehr, sehr müde. Auch das Wetter war trübe und neblig, kurz gesagt, es stellte sich eine leichte körperliche und moralische Krise ein. Trotzdem lief ich zwischen 20 und 24 km täglich, denn allzu wüste Anstiege waren nicht zu bewältigen.

Am vierten Tag kam ich nach Raukasjön. Da auf dem See viel tiefer, klitschiger Schnee lag, dämmerte es schon, als ich das Nordufer erreichte und als ich die gemütlichen Hütten sah, konnte ich nicht widerstehen. Im Haupthaus öffnete niemand, doch aus einer der Hütten kam ein Gast, Tommy I., um nach mir zu sehen. Der Besitzer von Raukasjön, Tommy II., war zum Einkaufen nach Dorothea gefahren, was einer mittleren Expedition gleichkommt (12 km mit dem Skooter bis zur Strasse, dann 120 km nach Dorothea; und das Ganze wieder zurück).

Aber alles kein Problem. Tommy I. schmierte mir ein Riesenbrot mit Fleischwurst und Käse, seine Frau Susanne goss mir einen Kaffee ein, und dann riefen wir übers Handy den Vermieter an (dessen erste Frage: "Ist das die Frau, die bei Radio Jämtland war"?). Ich zog in eine freie Hütte hoch oben am Hang, und Tommy und Susanne luden mich zum Abendessen ein: Elchstew von einem Tier, dass sie selbst geschossen hatten, Starkbier und schwarz gebrannten Schnaps. Die beiden sind passionierte Jäger, und ich erfuhr viel Interessantes über Jämthunde, Bärenjagd und die Begegnung mit Wölfen. In Raukasjön gingen sie auf Schneehuhnjagd, mit dem Kleinkalibergewehr, weil sie Schrot "unsportlich" fanden. So hat das Schneehuhn eine faire Chance, was sich schon daran ablesen lässt, dass die beiden in den sechs Tagen, die sie da waren, einen einzigen Vogel erwischt hatten. Später kam Tommy II. aus Dorothea zurück, und es wurde ein richtig lustiger Abend.

Die Hütte musste ich am nächsten Tag räumen, weil fest gebuchte Gäste anreisten, doch im Kahlfjäll wehte es mit 20 m pro Sekunde. In meinem übertriebenen Ehrgeiz wollte ich trotzdem losmarschieren, um zumindest den Aufstieg bis zur Baumgrenze zu schaffen. Doch nach einem Blick auf mein noch immer leidendes Gesicht beschied Tommy II. dass ich an diesem Tag keinesfalls durch die Berge laufen würde, und da er erstens ein weiser Fjällmensch und zweitens bei der Bergrettung ist, war Widerspruch ausgeschlossen. Stattdessen fuhr er mich am späten Vormittag mit dem Skooter die 10 km hinauf zur Slipsikstugan, was bei dem Sauwetter über eine halbe Stunde dauerte, machte mit der mitgebrachten Motorsäge eine Kiste Feuerholz klein und entschwand im Schneegestöber, nachdem ich ihm nochmals hoch und heilig versprochen hatte, heute keinen Fuß mehr vor die Tür zu setzen ("Sonst nehme ich Dich mit zurück nach Raukasjön"). Es ist doch schön wenn man im rechten Moment Menschen um sich hat, die vernünftiger sind als man selbst.

Den Rest des Tages verbrachte ich mit Indoor-Camping in Slipsiken, einer ziemlichen Bruchbude, in der es zog wie Hechtsuppe, so dass ich die Temperatur nur auf 2 Grad plus brachte. Ich warf die zulässige Hoechstdosis an Paracetamol ein und las 150 Seiten von Juri Rytcheus Roman "Traum im Polarnebel". Für die verbleibenden 400 km bis Abisko, wo neuer Lesestoff wartet, muss ich jetzt hart rationieren.

Rytcheus Bücher über die Tschuktschen, die Ureinwohner auf der sibirischen Seite der Beringstrasse, sind die ideale Lektüre für diesen Trip. Meine Lieblingsstellen sind die Schilderungen der Essgelage nach erfolgreicher Jagd. Besondere tschuktschische Köstlichkeiten sind: Kopalchen (Walrosshaut mit Fettschicht, eingerollt und 3 Monate in der Erde vergraben), das rohe Knochenmark aus Rentierläufen und ein besonders wohlschmeckendes Fett, das zwischen den Barten des Grindwals sitzt. Wenn ich das im Zelt lese, bekomme ich richtig animalische Gelüste.

Seit meine körpereigenen Fettvorräte weitestgehend aufgezehrt sind, esse ich wie ein Scheunendrescher. An einem Tag aß ich innerhalb von drei Stunden drei Tafeln Schokolade und abends 300 g Lachsteaks und 250 g getrocknetes Rentierfleisch (und Käse, und Knäckebrot, und vier Becher Kakao). Wenn das so weiter geht, muss ich in Tärnaby 30 kg Proviant zuladen, oder ich werde irgendwo zwischen Ritsem und Abisko hungers sterben.

Der Sturm auf dem Norra Borgafjäll hatte sein Gutes. Am nächsten Tag war der elende Nebel der letzten Tage fast weggeblasen, ich sah die Sonne (und sie wärmte sogar), blauen Himmel, und endlich wieder die Berge. Über den See Slipsiken verläuft die Grenze zwischen Jämtland und Västerbotten. Jetzt bin ich in Lappland!

Ich lief über die weite Hochebene des Norra Borgafjäll und genoss die Ausblicke auf Marsfjäll im Osten und Fjällfjäll im Norden. Es folgte eine rasante Abfahrt nach Klimpfjäll, wo ich am Lebensmittelladen hielt, um meinen chronisch schmachtenden Magen mit einigen Extraschmankerln zu versorgen. Dann nahm ich den nächsten Aufstieg zum Västra Fjällfjäll in Angriff und bestaunte bei mittlerweile völlig blauem Himmel Durrenpiken, den seltsam geformten Hauptgipfel, dessen Ostflanke fast senkrecht über der Passhöhe aufragt. Schon um 16:30 hatte ich den Pass erreicht und wollte eigentlich noch ein Stündchen weitergehen,, doch urplötzlich fegten mir unglaubliche Böen entgegen - und die nette Stimme vom Fjällwetterdienst hatte doch am Telefon versprochen, es würde an diesem Tag höchstens 11 m pro Sekunde geben. Doch der Pass war wie ein Windkanal, und die Böen hatten mindestens das Doppelte. Gerade noch zur rechten Zeit stellte ich das Zelt auf. Ich habe schon einige sehr windige Nächte erlebt und weiß, was das Zelt aushält, doch diesmal habe ich mir zwei Stunden ernsthafte Sorgen gemacht. Doch als drei völlig monströse Böen schadlos über mich hinweggefegt waren, kam ich zu dem Schluss, dass das Zelt auch diesmal halten würde, stopfte mir Silikonstöpsel in die Ohren, kroch in den Schlafsack und schlief durch bis zum nächsten Morgen.

Eigentlich wollte ich weiter dem Skooterweg folgen, doch es war Wochenende und außerdem sind in Schweden gerade Winterferien. Entsprechend rege war der Verkehr, und irgendwann hatte ich von knatternden Motoren genug. So bog ich in ein kleines Seitental ein und nahm den für Skooter gesperrten Winterweg durch das Ransardalen. Ich lief von West nach Ost, und als hinter mir die Sonne unterging, ging vor mir der Vollmond auf. Es war taghell, ich erlitt einen schweren Anfall von Mondsucht und lief durch bis 19:00 Uhr.

Am nächsten Vormittag erreichte ich den See Ransarn. Es war Sonntag und die Einheimischen der umliegenden Siedlungen gingen ihrer liebsten Winterbeschäftigung, dem Eisfischen nach. Überall auf dem See standen Skooter, die motorisierten Drillbohrer knatterten und dick eingemummelte Männer und Frauen hielten ihre kleinen Angeln ins Wasser. Eine einsame Skiwanderin ist ein seltener Anblick, und so musste ich zwei Fischern eine Stunde lang Rede und Antwort stehen, wurde mit reichlich Butterbroten und Kaffee gefüttert und durfte zwischendurch die Saiblinge aus den Eislöchern ziehen. Ihr Angebot, mich auf dem Skooter mit nach Gielas zu nehmen, lehnte ich dankend ab und lief die 10 km bis zum Ort und dann noch drei km querfeldein durch die Botanik stattdessen auf Ski.

Und dann folgte wieder so ein Turbotag, und das obwohl die ersten 6 km querfeld durch Birkenwald und über kleine Seen sehr mühsam waren. Doch dann stieß ich auf den Skooterweg zum kleinen Ort Virisen, nahm statt des holprigen Winterwegs die schneebedeckte Strasse zum nächsten Ort Rönnbäcken und machte das bisher schnellste Stück der Tour: 11 km Fahrweg in 80 Minuten. Leider brach beim Skaten auf der Eispiste eine Stockspitze ab. Und da ich schon mal dabei war, hängte ich den nächsten See, den Vojtia, gleich noch hintendran und lief weiter bis Lövlund, wo der letzte Aufstieg nach Tärnaby beginnt - summa summarum 31 km.

Auf dem Vojtia war viel Wasser unterm Schnee, so dass ich auf dem Eis nicht zelten konnte, und der Fichtenwald war unglaublich steil und holprig. So schlug ich das Zelt auf den einzigen vier geraden Quadratmetern weit und breit auf, direkt am Fahrbahnrand der kleinen Strasse nach Lövlund.

Über Nacht schneite es ca. 8 cm, und als ich gerade aus dem Zelt kroch, kam ein Räumfahrzeug vorbei, machte zunächst einen freundlichen Bogen, um mich nicht unter einer Tonne Schnee zu begraben und hielt dann an. Thomas, der Fahrer, war sehr neugierig zu erfahren, was ich da treibe, und lud mich kurz entschlossen zu einem zweiten Frühstück ein. Ich konnte nicht widerstehen. Da Thomas erst noch die Strasse räumen musste, schickte er mich voraus zu seiner Autowerkstatt etwas oberhalb an der Hauptstrasse, und als ich dort ankam, hatte sein Mechaniker schon den Kaffee aufgesetzt. So wurde es elf Uhr bis ich aufbrach, den Bauch mit Zimtschnecken gut gefüllt, und da ich ca. 24 km gehen und 400 m aufsteigen musste, wurde es Abend, bis ich meine Unterkunft in Tärnaby bezog.

Die Tage hier vergehen mit den üblichen Verrichtungen. In der Autowerkstatt habe ich den verbogenen Querholm des Pulkagestänges gerichtet; im Sportladen diverse zerschlissene Kleidungsstücke ersetzt, und der genialische Betreiber der Skiwerkstatt hat es nicht nur geschafft, die Stockspitze zu ersetzen, sondern hat mir auch noch eine neue Schnalle für den Skistiefel gebastelt.

Zum Abschluss etwas Statistik: Ich bin jetzt seit Lillehammer 54 Tage unterwegs, davon 11 Ruhetage. In 43 Tagen bin ich ca. 800 km gelaufen (die 60 km ohne Ski ab Oslo nicht mitgerechnet). Ich habe bisher 5 Paar Unterziehhandschuhe verschlissen, einen Kompass, eine Stirnlampe, die Windhose, die Wanderhose, die Kartentasche, und die Schuhe sehen arg mitgenommen aus. Aber ich benutzte seit 2 Monaten ein und dasselbe bic-Minifeuerzeug, um den Kocher anzuzünden. Auch in den Wandersocken ist erstaunlicherweise noch kein einziges Loch. Ich habe mir keine einzige Blase gelaufen. Und traurig, aber wahr: Ich habe bisher keinen einzigen Skiwanderer getroffen. Es ist einfach unglaublich. In Gäddede ging das Gerücht, am Stor Blasjön sei ein einsamer Franzose gesichtet worden, der auf dem Weg nach Norden sei. In Raukasjön bekam ich ein Riesenstück getrocknetes Elchfilet geschenkt, das ich eigentlich aufbewahren und mit dem ersten Gleichgesinnten, den ich treffe, teilen wollte. Ich habe es gestern verschlungen - es würde eh nur schlecht...

Doch jetzt kommt das Filetstück der Tour. In den Nationalparks sind viele Hütten bewirtschaftet, so dass ich zumindest auf Hüttenwirte treffen werde. Und ich weiß, die anderen Skifahrer werden kommen, spätestens auf dem Kungsleden. Die nächsten 400 km sind eine Handy- und Internetwüste, so dass der nächste Bericht wohl etwas auf sich warten lassen wird.

 

 

 

Gäddede, 23. Februar 2007

 

Endlich ist Winter! Nach zwei sehr kalten Nächten um -24 Grad ist "normales" Winterwetter eingekehrt: -5 bis -10 Grad nachts und -3-4 Grad tagsüber, und der Neuschnee hat sich auch im Wald größtenteils gesetzt. Dafür war es die meisten Tage etwas trübe, aber man kann nicht alles haben. Ich habe die optimalen Gehbedingungen genossen und ordentlich Kilometer gespult - 260 km in 11 Tagen. Lediglich die letzten zwei Tage übers Hotagsfjäll waren sehr heftig, doch davon später.

Die ersten drei Tage folgte ich meiner geplanten Route über diverse Seen und das Skalstugufjäll, eine wunderschöne, leicht baumbestandene Hochebene, die ein wenig an die Hardangervidda erinnert. Inzwischen eilt mir ein Ruf voraus: Als mir auf dem Norder Rensjön ein Mitarbeiter der Bergrettung auf dem Skooter entgegenkam, fragte er gleich, ob ich die Deutsche bin, "die zu Fuß nach Kirkenes geht". Ja, ja, die Jungs und Mädels von der fjällreddning plaudern halt gerne mal über ihre Satellitentelefone...

Vom Skäckerfjäll habe ich wegen Nebels leider nichts gesehen. Meine Pläne, weiter über die Seen Anjan und Juvuln zu gehen, musste ich jedoch revidieren: Ich konnte den Anjan queren, doch danach ist der markierte Weg wegen unsicherem Eis ans Ufer verlegt. Das hieß in diesem Fall hügeliges, dichtes Waldgelände mit einem Skooterweg der übelsten Sorte: Tief wie ein Hohlweg mit ausgefahrenen, steilen Buckeln und so schmal, dass ich noch nicht einmal im Schrägschritt die kleinen Steigungen erklimmen konnte. Immer wieder schnallte ich die Ski ab und zog die Pulka zu Fuss die Hügelchen hinauf. Irgendwann kreuzte der Skooterweg die Strasse nach Kallsedet, und da dies sowieso meine Richtung und die Fahrbahn schneebedeckt war, wechselte ich kurz entschlossen auf den Fahrbahnrand. Bei Sundet, ca. 6 km vor Karlsedet, war ein Hotel auf der Karte eingezeichnet, und ich dachte, eine Dusche wäre ja auch mal wieder nicht schlecht. Als ich im Dämmerlicht da ankam, traute ich meinen Augen nicht: Ein verlotterte, riesige Holzvilla und ein paar ebenso trübselige Nebengebäude, ganz offensichtlich unbewohnt - und meine Karte hat den Revisionsstand "Dezember 2006"! So ungemütlich zwischen Strasse und dem riesigen Stausee Kallsjoen wollte ich auf keinen Fall zelten, und so steuerte ich kurz entschlossen auf ein kleines Holzhaus nebenan zu, dass offensichtlich bewohnt war. Die Mitleid erheischenden Insignien des Skiwanderers, der aus der Kälte kommt, legte ich nicht ab: Stirnlampe und Skistöcke. Im Haus traf ich auf zwei alte Männer, der eine Anfang siebzig, der andere Anfang achtzig. Die Söhne der ehemaligen Hotelbetreiber, die aus Stockholm auf Heimatbesuch waren, wie sich herausstellte. Als ich erzählte, dass das Hotel auf der Karte noch eingezeichnet ist, waren sie ganz begeistert, und der Jüngere schloss mir eines der Nebengebäude zum Übernachten auf. Das Interieur war unglaublich, als ob jemand Mitte der 1960er die Tür abgeschlossen und fort gegangen wäre. Nierentischchen, Plüschkissen, Stickbilder an den Wänden. Die Highlights: Ein ca. 40 Jahre alter E-Herd, der abging wie Schmidts Katze, eine ebenso alte (und voll funktionstüchtige) Dunstabzugshaube von Huskvarna und ein schwarzes Bakelit-Telefon mit Kurbel. Als ich dem Besitzer meine Eindrücke mitteilte, sagte er nur: "Yes, indeed, my granma lived here, and she died in 1966". Ich fühlte mich ein bisschen wie in "Psycho" und als ich allein war, inspizierte ich erst einmal die unzähligen kleinen Zimmerchen, um festzustellen, ob die Großmutter nicht vielleicht noch irgendwo im Sessel saß. Das Wasser war abgestellt, und ich erhielt einen Eimer mit Wasser zum Kochen aus dem Wohnhaus. Doch der Strom funktionierte. Nur als ich den Heizlüfter auf höchste Stufe stellte, um den Schlafsack zu trocknen, schwächelte die Elektrik ein wenig, und es wurde sekundenweise dunkel. Am nächsten Morgen ging ich hinüber ins Wohnhaus und plauschte noch ein bisschen. Dort dasselbe Bild, nur war der Aktualisierungsstand des Interieurs etwa Mitte der 1970er. Die Eltern hatten das Hotel schon vor zig Jahren aufgegeben, wie ich erfuhr. Die ganze Episode war absolut surreal und eine Mischung aus Kaurisimäki und Beckett. Der Juengere erklärte immer wieder. "We are about to do some modernization. We are going to reopen"; währen sein älterer Bruder nur leicht mit dem Kopf schüttelte. Doch der Jüngere trug seine Renovierungspläne mit solcher Ernsthaftigkeit vor, dass ich nicht zu lächeln wagte. Immerhin hat das Hotel Sundet jetzt ja wieder einen Gast gehabt. ich trug mich im Gästebuch ein, das der Ältere aus dem Regal hervorholte, wobei er mit seiner Brille fast an die Bücherrücken stieß. Der letzte Eintrag stammte vom 16. Juni 1979.

Wieder im 21. Jh. angekommen, machte ich mich auf nach Kallsedet, wo der See Juvuln beginnt. Doch meinen Plan, den See entlang zu laufen, musste ich ändern: Er war gerade reguliert worden, es gab Setzungsrisse und offenes Wasser und an drei Stellen ist das Eis sowieso stets offen, weil große Flüsse einmünden. Und so musste ich die Uferstrasse laufen, was bestimmt 7 km länger war, da ich jede Bucht und Halbinsel auslaufen musste. Ansonsten war das Gehen angenehm, nur ein kurzes Stück Hauptstrasse und sonst Nebenstrassen und Schotterpisten, die von Autos und Skootern gleichermaßen genutzt wurden. Nachmittags kam mir auf dem Skooter ein, auf neudeutsch sagt man wohl "Ranger" entgegen. Die Schweden haben ein netteres und treffenderes Wort: "naturbevåkere" - "Naturwächter". Gemeinsam schauten wir noch mal auf die Karte, und der naturbevåkere gab meiner weiteren Routenwahl, einschließlich der Umgehung diverser gefahrenträchtiger Gewässer und der Überschreitung des Oldfjälls beim Korsvatnet, sein Placet, so dass ich in dieser Hinsicht beruhigt meinen Weg fortsetzte.

Mein rudimentäres Volkshochschul-Schwedisch hat sich inzwischen zu einem geschlossenen, wenn auch fehlerbehaftetem System verfestigt, so dass ich halbwegs verstehe und verstanden werde. So konnte ich mich auch mit einem älteren Herrn unterhalten, der mir mit seinem Volvo entgegenkam und neugierig anhielt, um zu erfahren, wo es denn hingeht. Als er mein Reiseziel erfuhr, sagte er nur: Jå, det er en reelt tur"! (Ja , dass ist mal eine richtige Tour) und wollte gleich seinen Wagen wenden, um mich die 15 km bis zur gesperrten Schotterpiste zum Korsvatnet hoch zu fahren. Aber ich erklärte dankend, das Schummeln verboten wäre, und ich deshalb zu Fuß weiter gehen würde. Das hat er auch gleich eingesehen und wir verabschiedeten uns. (Die Taxifahrt nach Drevsjö war Sünde genug, und ich werde in zwei Monaten in Kilpisjärvi auf den Saana, den heiligen Berg der Sami, steigen, um Abbitte zu leisten).

Die Passüberschreitung am Korsvatnet verlief leider im Nebelschleier. In der nächsten Nacht wurde es -10 Grad kalt und es schneite ca 4 cm. eine perfekte Unterlage! Mich packte der Gehwahn und ich lief in 7,5 Stunden 35 km bis Valsjöbyn. Auch hier war auf der Karte ein Hotel eingezeichnet, und ich weiß ja inzwischen, dass das eine verlässliche Information ist. Als ich vom See Valsjön durch den Wald dorthin lief, sah ich dass der Parkplatz vorm Hotel noch tief verschneit war. Doch in einem Nebentrakt brannte Licht, und ich stapfte durch hüfttiefen Schnee bis zum Fenster: Der Hotelier saugte Staub! Ich musste eine ganze Weile an die Scheibe klopfen, bis er mich bemerkte und das Fenster öffnete. Den Rest klärten wir durch ein kurzes Gespräch:

"Hej, hast Du geöffnet?"

"Nein, ist noch geschlossen."

"Kann ich trotzdem hier übernachten?"

"Sicher, geh ums Haus, die Hintertuer ist offen".

So sprach der Chef, saugte seine Zimmer zu Ende, nahm das Geld für die Übernachtung entgegen, schloss mir die Küche auf und fuhr nach Haus.

Das Jämtland ist zwar nur dünn besiedelt, aber ausschließlich von netten Menschen.

Der Fahrplan für die letzten 60 km bis Gäddede sah wie folgt aus: 500 m Aufstieg bis aufs Hotagsfjäll auf einem markierten Weg; dann gut 30 km GPS-Navigation über die Hochebene und schließlich wieder 500 m Abfahrt durch den Wald sowie ca. 10 km entlang des Sees Hetögeln auf der Uferstraße (das ist wieder einer dieser niederträchtigen Stauseen mit viel offenem Wasser).

Die Hochebene ist unglaublich schön, es gibt hier sehr ungewöhnliche Bergformationen: Unzählige Hügelchen, wie überdimensionierte Ameisenhaufen, zwischen 20 und 100 m hoch. Durch Nebelschleier schien die Sonne, links und rechts ein Regenbogen (oder Schneebogen?), doch Bilder habe ich von dieser mystischen Landschaft keine gemacht, denn ich hatte andere Sorgen: Schon beim Aufstieg setzte starker Wind ein; um Windstärke 4 bis 5 und es wurde ca. minus 15 Grad kalt. Eine wirklich gefährliche Kombination, bei der man ohne Not die Hand nicht mehr aus den Handschuhen holt.

Im Windschutz eines großen Felsens schlug ich das Zelt auf, und leistete mir am nächsten Morgen den ersten wirklich dummen Fehler dieser Tour. Die Gesichtsmaske saß nicht richtig, und es brauchte beim Zeltabbau keine halbe Stunde, um mir leichte Erfrierungen an Wangen und Nase zuzuziehen. ich ärgere mich jetzt noch über meine Dämlichkeit. Dick eingemummelt lief ich dann über die Hochebene, die Orientierung war problemlos (nur die Batterien des GPS schwächelten in der Kälte) und wenn der schneidende Wind nicht gewesen wäre, wäre es ein Traumtag gewesen. Abends überlegte ich kurz, einen Wartetag im Zelt einzulegen. Doch ich steckte in einem Funkloch und konnte nicht in Gäddede anrufen, wo ich schon eine Hütte gemietet hatte. Wenn ich dort nicht pünktlich auftauchen würde, würde sich mit 100-prozentiger Sicherheit die Bergrettung auf den Weg machen, und rettungsbedürftig fühlte ich mich nicht. Also hieß es am nächsten Tag noch einmal ca. 14 km durch den Wind laufen, der inzwischen Gott sei Dank von hinten kam. Dann begann die Abfahrt, bald erreichte ich dichten Wald und war aus dem übelsten Wetter heraus. Die verbleibenden 12 km bis Gäddede waren dann ein reines Geduldspiel.

Auf der Krankenstation ließ ich am nächsten Tag mein Gesicht begutachten, das ich jetzt mit einer Cortison-Salbe pflege. Alles halb so wild, etwa wie ein Sonnenbrand. Aber ich bin richtig froh, dass ich nicht im Zelt gewartet, sondern kurz entschlossen aus dem Wind herausgelaufen bin. Denn inzwischen hat es oben in den Bergen Windstärke 7 bei minus 18 Grad und selbst hier unten im Ort fegt der Flugschnee waagerecht durch die Strassen. Erst ab Sonntag ist Wetterbesserung angesagt. Ich werde deshalb einen Tag länger hier bleiben und erst Sonntag nach Tärnaby aufbrechen.

 

 

 

Storvallen Vandrarhem, 10. Februar 2007

 

Auf den Abschnitt Tänndalen-Storlien, den Arne und ich 2001 schon einmal im Sommer gewandert sind, war ich besonders gespannt, und es ist eine wunderschöne und ereignisreiche Woche gewesen.

Nach den erholsamen Tagen in Skarvruet fiel mir der Abschied fast ein bisschen schwer, doch anderseits war ich richtig heiß darauf, wieder loszulaufen. Es hatte während der Ruhetage geschneit und bei meinem Aufbruch war es noch recht warm und so windig, dass ich den ersten Abend in einer einfachen Rasthütte verbrachte. Am nächsten morgen um 8 Uhr blies es so heftig, das sich die Hüttentür kaum öffnen konnte, und erst um 10 legte sich der Wind so weit, dass ich aufbrechen konnte. Da der Wind den ganzen Neuschnee weggefegt hatte, fiel das Laufen recht leicht, bis die nächste Abfahrt nach Klinken im Ljungdalen begann. Spuren gab es noch nicht, die spärliche Wintermarkierung verlor sich im Birkenwald und das gewohnte Tiefschneegewühle begann. Für ca. 3 km und 120 Höhenmeter bergab (!) bis Klinken brauchte ich drei Stunden. Es wurde immer wärmer, die Pulka schob drei Wassereimer Pappschnee vor sich her und hatte, nachdem sie einmal durch eine Schneebrücke in das offene Wasser eines kleinen Baches eingebrochen war, ungefähr das Gleitverhalten eines Bleiklumpens. Es war schon dunkel, als ich auf der idyllischen Wiese der ehemaligen Seter (Alm) Klinken das Zelt aufschlug. Mittlerweile war es fünf Grad Plus, ein leichter Nieselregeln ging nieder und ich sann darüber nach, dass es eigentlich ein Menschenrecht auf Dauerfrost im Februar geben sollte.

Mein Appell wurde erhört, es wurde nachts kälter, und nachdem ich am nächsten morgen ein paar Kilo Eis von Ski und Pulka losgeschlagen hatte, ging es an den nächsten Aufstieg. Ich lief zunächst 3 km ein Stück das Tal lang, um zu einem auf der Karte eingezeichneten Skooterweg zu gelangen. Dort fanden sich tatsächlich einige verschneite Spuren, die mir die gut 300 m Aufstieg durch den Birkenwald erleichterten. Als ich die Baumgrenze erreichte, wusste ich endlich wo der ganze Schnee hergekommen war, der mir im Tal das Leben so schwer gemacht hatte: Die Bergrücken waren kahl gefegt, über weite Strecken nur Eis und blankes Gestein. Nun zeigte sich, dass mein "Gehversuch" zwischen Oslo und Gjövik doch zu etwas nutze war. Ich wandte meine neu erworbene Fähigkeit, über Eisplatten zu laufen, an und ging die verbleibenden ca. 10 km und 150 Höhenmeter bis zur Feltjägarstugan zu Fuß, während die Ski auf der Pulka ausruhen durften. Das war schneller und bequemer, und andernfalls hätte ich wegen der vielen Steine auch den Belag der Ski arg strapaziert. Die Feltjägarstugan war leider die schäbigste und unordentlichste STF-Huette, die ich bis jetzt kennen gelernt habe. Die letzten Benutzer hatten einigen Unrat hinterlassen und vor allem sämtliches Holz verheizt, ohne für Nachschub zu sorgen, so dass ich, nach 7 Stunden auf den Ski, erst einmal aufräumen und die Tür des Holzschuppens mit der Schneeschaufel freilegen musste, bevor ich heimisch werden konnte.

Beim Aufstieg zum Helagsmassiv am nächsten Tag hatte ich noch Wind und schlechte Sicht, doch dann klarte es auf, und der Rest war einfach nur traumhaft: Tags um minus 15, nachts minus 20-25 Grad, Windstille, ein unglaubliches klares, blaues Licht, Fernsicht (so dass ich den Helags wenigstens im Rückblick bewundern konnte), und ein Sternenhimmel, der die Nacht zum Tage machte. Als ich per Handy den Fjällwetterbericht abrief, war ich richtig froh, oben in den Bergen zu sein: Im Tal waren es minus 35 Grad, eine klassische Inversionswetterlage. Ich zeltete an der Ostflanke des Sylarnamassivs auf 1000 m Höhe, mit Panoramablick auf den über 1700 m hohen Hauptgipfel "Slottet", dessen kühner Gipfelgrat durch eine riesige Schneewechte wahrscheinlich 40 m höher war als im Sommer. Der vorletzte Tag, an dem ich über das Blåhammarenfjell lief, brachte dann noch einmal ein Abenteuer der besonderen Art. Bei ungetrübter Fernsicht sah ich die Fjällstation auf fast 1100 m Höhe schon auf 12 km Entfernung. Als der 250 m hohe Aufstieg begann, dämmerte es bereits, und ich holte die Stirnlampe hervor: Nichts tat sich. Dieses Sch...teil. So musste ich im Dunkeln gehen, was aber wegen des sternklaren Himmels ganz gut ging. Ich bin den Weg ja schon im Sommer gelaufen (allerdings bei Nebel, Sturm und weit schlechterer Sicht), und außerdem steht direkt neben der Fjällstation ein Signalfeuer für den Luftverkehr, so dass man schon ein kompletter Idiot sein muss, um sie zu verpassen. Trotzdem bemühte ich mich, genau den Markierungen zu folgen, um nicht in irgendwelche Felsrinnen abseits des Weges zu geraten. Nur mit einer Schlüsselanhänger-LED machte ich mich, oben angekommen, zwischen all den Hütten auf die Suche nach dem offenen Notraum, denn an Zelt aufschlagen und Kochen ohne Licht war nicht zu denken. Die Suche nach der Tür zum Notraum war nicht so schwer, den die Gebäude waren von oben bis unten mit Schnee und Firn überkrustet, und ich musste einfach nur das einzige freigekratzte schwarze Rechteck ansteuern. Die Station hat Stromanschluss, so dass ich im Notraum sogar elektrisches Licht hatte, welch ein Luxus. Hier mussten noch am selben Tag Leute gewesen sein: Es war 0 Grad "warm" (draußen minus 20), und auf dem Ofen stand der Schneeeimer halbvoll mit Wasser, so dass es mit dem Kochen schnell ging. Es wurde noch ein richtig gemütlicher Abend.

Der letzte Tag nach Storvallen war eigentlich ein Klacks: Abfahrt von Blahammeren und ein kurzer Anstieg über den Berg Rundvalen, doch die 12 km hatten es noch einmal in sich. Es ist unglaublich, wie stumpf -30 Grad kalter Schnee ist, es ging sich wie auf nassem Sand. Die steile Abfahrt von Blahammaren zum Fluss Enan nahm ich komplett in der "Falllinie" entlang der Markierungen, und musste trotzdem noch mit den Armen nachschieben, um voranzukommen. Beim letzten Aufstieg brauchte es einige Verschnaufpausen, die ich damit verbrachte, Nahaufnahmen von Zentimeter langen Firnkristallen zu machen, die sich in den letzten windstillen Tagen gebildet hatten. Um drei Uhr bezog ich mein Zimmer in der Jugendherberge und genoss die erste Dusche seit einer Woche in vollen Zügen. Am Abend beköstigte mich Göran, der Hüttenwirt, mit einem Riesentopf Gulaschsuppe. Sein Kommentar zu meinem Reiseziel Vardö war kurz und bündig: "O shit".

In den zwei Ruhetage dann das übliche: Ausrüstung pflegen, Sauna, Lebensmitteleinkauf. Außerdem habe ich eine neue Stirnlampe gekauft. Jetzt, wo sie Konkurrenz hat, funktioniert die alte wieder tadellos, aber sie ist trotzdem in den Ruhestand geschickt und wird zukünftig dabei helfen, Bier vom Balkon zu holen...

Insgesamt bin ich 130 km in 7 Tagen gelaufen und nähere mich damit langsam der angepeilten Schlagzahl. Doch war das Gehen sehr anstrengend, und meine rechte Schulter hat etwas gelitten. Ich werde die nächste Etappe deshalb etwas umplanen, zwei Pässe vermeiden und mehr über Seen gehen. Das schont die Arme, damit das Zipperlein nicht chronisch wird.

 

 

 

Tänndalen, Skarvruets Vandrarhjem, 31. Januar 2007

 

Jetzt bin ich in Schweden! Aber der Reihe nach.

Die Fortsetzung meiner Tour von Koppang verlief zunächst leider nicht plangemäß. Ich habe zum ersten Mal ausgiebig mit Wildschnee Bekanntschaft gemacht. Bei -25 Grad über mehrere Tage fielen ca. 60 cm feinster Pulverschnee, der aufstaubte, wenn man hineinpustete. Das Gehen wurde sehr schwierig, zumal der Schnee sich bei der Kälte und Windstille überhaupt nicht setzte, im Wald schon gar nicht, und dabei so locker und durchlässig blieb, dass ich bis zum Oberschenkel darin versank. Bei der Kälte kleben Steigfelle nicht mehr, der Klister war steinhart gefroren, und selbst am klebrigen "Rot extra", dem Steigwachs, das normalerweise für Temperaturen um Null Grad gedacht ist, wollten die kleinen Kristalle einfach nicht kleben bleiben.

Nachdem ich mich zwei Tage und insgesamt 14 km den Langmoveien hinaufgewühlt hatte, war kein Weiterkommen mehr. Das steilste Stück über den Rücken des Koppangkjölen war für mich schlicht unpassierbar; und der nachfolgende Aufstieg durch das Rendalen ist ähnlich steil und noch länger. Es half nichts: Ich lief in der eigenen Spur nach Koppang zurück, was selbst bergab 5,5 Stunden dauerte. In Koppang ging ich in die Bibliothek, um im Internet eine Busverbindung nach Drevsjö am Femundsee herauszusuchen. Die Bibliothekarin wusste bereits, dass ich die verrückte Deutsche bin, die zu Fuß bis in die Finnmark will. Eine vernünftige Busverbindung gab es an dem Abend nicht mehr. Anstatt diesem schrecklichen Hotel noch einmal 100 Euro in den Rachen zu werfen, investierte ich sie lieber bei "Koppang Taxi AS" und eine nette Taxifahrerin fuhr mich 70 km nach Osten, nach Femundsvika am Südende des Femundsees, wo ich in einem kleinen Gasthof einkehrte.

Der Winter ist in diesem Jahr drei Wochen hinter dem normalen "Fahrplan" zurück. Der Femunden hat sich erst am 19. Januar geschlossen, was ein absoluter Rekord ist. Da nach den kalten Tagen das Eis nun als sicher galt, machte ich mich am nächsten Morgen auf zum Seeufer. Doch auf dem Eis stand Wasser und Sulz, schön abisoliert von ca. 15 cm Pulverschnee. Als ich in diese Schlampampe hinein trat und die Ski wieder herauszog, hatte ich, bei -20 Grad, in nullkommanichts ein Kilo Eis an den Skiern hängen, das ich dann etwa eine halbe Stunde lang herunterhacken musste. Also, der Gang über den See musste fürs erste ausfallen, und ich beschloss, entlang der Strasse nach Elga zu gehen. Asphalttreten ist normalerweise nicht sehr prickelnd, aber nach der Tiefschneetreterei der letzten 10 Tage war es eine richtige Wohltat, über die plattgefahrene Schneedecke zu laufen. Außerdem kam höchstens alle Viertelstunde ein Auto vorbei. Ein weiterer Vorteil dieser Routenwahl war, dass spätestens am zweiten Tag die ganze Gemeinde Engerdal wusste, dass ich im Anmarsch war. Die Postbotin in ihrem roten Auto hat mich schon immer freundlich gegrüßt, wenn sie an mir vorbeifuhr. Und so hatten Rolf und Tone Eriksen von der Femund Fjellstue, bei der ich mich schon im Dezember per Mail angekündigt hatte, schon eine Hütte für mich vorgeheizt, als ich dort ankam.

Die abendliche Diskussion über die weitere Routenwahl weitete sich aus. Erst brüteten Rolf und Tone mit mir über den Karten, dann drei samische Rentierzüchter, die zum Essen in die Gaststube kamen, und schließlich wurde per Telefon noch Sveinje, der Bauer von Haugen Gard 15 km weiter nördlich hinzugezogen. Er unterhält im Winter die gesteckten Wege über den Femunden. Sveinje hatte mit dem Markieren noch nicht begonnen, meinte aber das Eis sei nördlich von Elga gut zu laufen. Und so machte ich am nächsten Tag einen neuen Versuch. Tatsächlich hatte es nicht mehr als 5 cm Schnee auf dem Eis, und selbst die wurden vom starken Wind im Laufe des Tages weggefegt, so dass ich immer wieder über spiegelblankes, tiefschwarzes Eis lief, was ein bisschen gruselig, aber natürlich völlig ungefährlich war.

Ich lief zwei Tage bis zum Nordende des Sees. Inzwischen war es wärmer geworden und hatte weiter geschneit, so dass sich nun das bekannte Spielchen wiederholte: Tiefschnee im Wald. Ich arbeitete auf der Karte eine Route aus, um möglichst schnell über die Baumgrenze zu kommen, in der Hoffnung, dass hier der Schnee schon härter war. "Nur" 4,5 km und ca. 200 Höhenmeter, für die ich neun Stunden geschuftet habe. Nicht nur am Rogensee auf der schwedischen Seite, auch am Femunden gibt es zahllose Rogenmoränen, parallel laufende, steile Schuttwälle, die wie Walfischbuckel einer auf den anderen folgen. Dazwischen kleine Seen mit steilen Ufern, und das alles dicht mit Nadelurwald bewachsen. Not to be repeated. Dem Pulkagestänge haben die Kletterparten nicht gutgetan, da sind ein Paar neue Karabiner fällig. Immerhin schaffte ich es bis an die Baumgrenze, konnte aber am nächsten Tag nur drei Stunden laufen, weil der Wind so heftig wurde, dass ich den Gang über den Pass und über das Kahlfjell nach Schweden nicht wagte und schon mittags das Zelt aufschlug. Durch den starken Wind wurde endlich der Schnee halbwegs hart (und am nächsten Tag habe ich über eine Stunde gebraucht, um das Zelt wieder auszugraben). Am 30. Januar um die Mittagszeit erreichte ich auf dem Rücken des Berges Vigelen die Grenze nach Schweden, erkennbar an einem 2 m hohen, massiven Maschendrahtzaun (der allerdings nur Rentiere, nicht Menschen am Grenzübertritt hindern soll). Ich hatte mir schon den ganzen Tag den Kopf darüber zerbrochen, wie ich über den Zaun kommen würde, doch ich brachte das Kunststück fertig, plötzlich vor einem Holztor zu stehen. Das Glück ist mit den Tüchtigen. Man kann sich meine Freude kaum vorstellen, als ich zwei Stunden später auf die erste schwedische Wintermarkierung stieß, den Weg hinunter nach Tänndalen. Allerdings noch völlig unbegangen, keine Skooterspuren und, ihr ahnt es schon, als ich in den Birkenwald hinunter kam: Tiefer, nasser Schnee (denn wir haben jetzt so um Null Grad).

Am Ende war es 20:00 Uhr und stockfinster, als ich endlich unten im Ort stand. 12 Stunden auf Skiern. Doch dann kam der Retter in der Not: Als ich im Vandrerhjem anrief, um ein Zimmer zu ordern, dauerte es keine zehn Minuten, und Bjorn, der Hüttenwirt, kam mit dem Jeep angefahren und lud mich und all meinen Krempel ein. nach Skavruet sind es nämlich noch mal 6 km Strasse. Dass musste irgendwie nicht mehr sein... Begleitet wurde Bjorn von Lisa, dem Rottweiler, die mich gleich ins Herz schloss - wahrscheinlich, weil ich so gut roch. Eine Woche Zelten hinterlässt seine Spuren... Lisa ist übrigens der einzige Hund, der mir untergekommen ist, der noch mehr unterschiedliche Geräusche machen kann wie unser Dackel Oskar.

Inzwischen bin ich frisch geduscht, habe Wäsche gewaschen, Pulka- und Zeltgestänge repariert, das Zelt getrocknet, den Kocher gereinigt, kurz gesagt, mich und die Ausrüstung wieder auf Vordermann gebracht. Außerdem bin ich heute morgen mit Ski und mit leerem Rucksack 7 km auf der Langlaufloipe nach Funäsdalen, den Hauptort, zum Einkaufen gelaufen. Mit dem vollen Rucksack zurück habe ich dann den Bus genommen. Morgen gibt es dann einen richtigen Ruhetag mit Sauna, Lesen, Essen und nichts tun.

 

Am 2. Febraur gehts weiter Richtung Storlien, 6 Tage plus x.

 

 

 

21. Januar 2007, Koppang

 

Gruß aus Koppang, meinem ersten Zwischenziel. Von Stürmen muss ich Euch ja nichts erzählen... So schlimm wie Kyrill war es hier nicht, aber den Wintereinbruch einmal live zu erleben, war doch eine ganz eigene Erfahrung. Seit meiner Ankunft in Lillehammer ist viel Schnee gefallen. Außerhalb der Rundloipen um Sjuesoen, Nordseter und Hafjell war nichts gespurt, so dass ich vom ersten Tag an die Pulka allein durch den Neuschnee wuchten musste. Wenn es bei Kachelmann mal wieder heißt, ein Hoch und ein Tief treffen aufeinander, dann weiß ich was gemeint ist. Wobei, vielleicht haben sich in meinem Falle auch zwei Tiefs getroffen (oder drei?). Das Barometer ist munter gestiegen und gefallen (Rekord: 19 Bar in 4 Stunden). Sonnenschein und Windstille wechselten mit hartem, boeigen Wind aus allen Richtungen, der besonders nachts blies und zu großen Schneeverwehungen führte.

Wegen des Windes konnte ich das Zelt in den ersten Tagen erst so gegen neun abbrechen, so dass ich bis zur Dunkelheit (15:30 Uhr) nur wenige Stunden gehen konnte. Neben Tiefschnee im Wald erschwerten die hohen Temperaturen (um Null Grad tagsüber und -5 Grad nachts) das Gehen. Es bildete sich nur eine dünne Schicht Harsch, durch die ich regelmaeßig einbrach. Besonders tückisch war der Krüppelwacholder mit seinen dachartigen Kronen, auf denen sich eine geschlossene Schneedecke gebildet hatte. Darunter sind aber noch zahlreiche Hohlrüume, und immer wieder rasselte ich mit den Ski (und häufiger noch die Pulka) einen halben Meter und mehr durch den dünnen Harsch. Die Pulka immer wieder aus diesen Löchern herauszuziehen, hat mir viel Freude bereitet.

Wegen des vielen Neuschnees bin ich von meinem ursprünglichen Plan, das steile und dicht bewaldete Imsdalen zu queren, abgerückt. In diesem Wald hätte ich mich mit Sicherheit festgefahren. Stattdessen bin ich zuerst über die DNT-Huetten Djupslia, Vetabua und Jammerdalen direkt nach Norden gegangen und dann ostwärts über den Friisveien, den alten Verbindungsweg zwischen Gudbrandsdalen und Østerdalen. Die Route war etwa 30 km länger, doch habe ich mich die ganze Zeit über der Baumgrenze bewegt, wo der Schnee sich schon gesetzt hat. Auch die kälteren Temperaturen in den letzten fünf Tagen haben die Schneesituation erheblich verbessert.

Vorgestern, im Remdalen, habe ich zweimal ein Vielfraß gesehen, und eine große Herde von Wildrenen! Ich bin dann durch das Atnadalen ins Østerdalen abgefahren und in Atnosen herausgekommen. Da dieser Ort bereits runde 15 km nördlich von Koppang liegt, habe ich mir den Luxus einer kurzen Zugfahrt bis hierhin zurück gegönnt.

Das Hotel "Koppangtunet", in dem ich hier wohne, ist unglaublich, "Hotel California" wäre ein besserer Name. Es wird von drei Frauen betrieben, die mit ihren Kindern in einigen der Hotelzimmer wohnen. Sie frühstücken mit am Frühstücksbuffett, benutzen die Gaststube als Wohnzimmer und haben mir gestern das schlechteste Steak meines Lebens serviert. Es gibt einen Dauergast, der sich als Faktotum betätigt, die Rezeption bedient und voller Begeisterung ein rasenmäherartiges Gefährt mit Zweitaktmotor rund ums Hotel herumschiebt, um die Gehwege vom Schnee zu befreien.

Der Verdacht, dass man mich hier nie wieder fortlassen will, ist mir gestern gekommen, als ich feststellen musste, dass das Fenster meines Zimmers zugeschraubt ist. Ich werde mich morgen also in aller Herrgottsfrühe aus dem Staub machen, falls ich nicht heute Nacht an Sauerstoffmangel versterbe. Heute nach dem Früstück habe ich einen kleinen Ausflug mit den Ski gemacht, um den Ausstieg aus dem Dorf zu erkunden. Der Langmotveien, der alte Verbindungsweg vom Østerdalen ins obere Rendalen, ist leider nicht geräumt, aber ich bin das Tiefschneetreten ja inzwischen gewohnt. Hoffe übermorgen den Ort Øvre Rendalen zu erreichen. Dann nur noch ein Aufstieg, und ich bin in der Femundmarka.

 

 

 

Lillehammer, 12. Januar 2007

 

Der Wintereinbruch hat meiner Fußwanderung gestern ein Ende bereitet. Nachdem sich ab Oslo Matsch und Eis bei 2 Grad plus noch die Waage hielten (was besonders dann prickelnd ist, wenn man durch das Eis in irgendwelche Sumpflöcher einbricht), wurde es je mehr ich ins Inland kam (etwa ab der Kobberhaughytta), immer kälter, allerdings ohne ein Fitzelchen Schnee. In der ersten Nacht war es ca. drei Grad minus, und ich habe einige Bastelarbeit geleistet, um das Zelt bei steinhart gefrorenem Boden, in den kein Hering ging, aufzustellen. Drei Bäume und 30 m Reepschnur waren eine große Hilfe. In der nächsten Nacht war es minus zehn Grad, und ich habe in Ermangelung von Bäumen unter freiem Himmel biwakiert. Ein Problem war die Wasserversorgung, Schnee zum schmelzen war nicht da, und vorgestern Abend habe ich eine schweißtreibende Viertelstunde damit verbracht, ein Eisloch in einen See zu hacken. Alle Waldwege waren blankes Eis, und nur wenige Nebenstrassen, die auch von Autos befahren werden, waren abgestreut. So bin ich wohl oder übel Kilometer lang auf Böschungen und durch Straßengräben gelaufen. Ich muss meinen Mantras noch ein neues hinzufügen, Arbeitstitel "Lob der Fichte". In den Straßengräben wachsen nämlich Millionen Fichtenschösslinge, deren Spitzen aus dem Eis herausgucken, so dass man einen festen Tritt hat. Ich möchte nicht wissen, wie viele dieser Dinger ich platt getrampelt habe. Zur Strafe werde ich bestimmt als Fichtenspanner wiedergeboren und muss mich dann 30 Generationen lang wieder zum Menschen hochdienen. Vorgestern Nacht ist dann auf ca. 500 m Höhe der erste Schnee gefallen, ca. 2 cm, was das Gehen noch tückischer machte, da man das blanke Eis nicht mehr erkennen konnte. Da habe ich beschlossen: Wenn ich mir die Knochen breche, dann zumindest im Schnee. In einem Gewaltmarsch bin ich ca. 18 km bis runter nach Roa gelaufen (noch völlig schneefrei), wo ein Bahnhof ist, habe den nächsten Zug nach Oslo genommen, die Pulka aus dem Schließfach befreit und bin direkt nach Lillehammer weiter gefahren. Verrückt: Um 13 Uhr habe ich eine schneefreie Landschaft fotografiert, und zwei Stunden später lagen schon in Oslo ca. 4 cm. Über den Wintereinbruch, der im Großraum Oslo zu einem Verkehrschaos geführt hat, haben sogar die Abendnachrichten berichtet. Gut das ich zeitig abgestiegen bin. An Skifahren ist natürlich noch nicht zu denken, dazu braucht es 20-25 cm.

Der Mensch ist nicht zum Gehen in Stra?engräben gebaut; entsprechend fühlt sich meine Unterschenkelmuskulatur an, und im linken Spann habe ich mir eine leichte Zerrung geholt, die mir bestimmt noch einige Tage Freude bereiten wird. Ich bin jetzt für zwei Tage in Lillehammer, in dem wohlbekannten kleinen Hotel im Bahnhof. Hier unten liegt Schnee, aber auch nur 5 cm über blankem Eis. Die halbe Stadt ist mit Skistöcken und Bergschuhen unterwegs. Ich nehme deshalb morgen den Bus hoch nach Sjusjoen, wo die Schneeverhältnisse gut sind.

Und jetzt die nächste Improvisation: Habe beim DNT hier in Lillehammer Auskünfte bezüglich der Eisverhältnisse eingeholt: Weil die Eisbildung dieses Jahr viel später eingesetzt hat als normal, und außerdem durch viele Tauwetterphasen unterbrochen waren, kann der Femundsee zur Zeit nicht überquert werden. Ich habe meine geplante Route deshalb wie folgt abgeändert:

Abschnitt II bis Moyavollen wie geplant. Ab da bleibe ich westlich des Femunden. Durch das Somadalen nach Ellefsplats (DNT-Huette); weiter nordwärts nach Tufsingdal (Dorf); weiter nach Langen am Nordende des Femundsees. Von dort direkt ostwärts bis zur Muggsjoen Seenplatte bis nach Baulan auf die schwedische Seite, wie die geplante Route, nur an den Seen vorbei, nicht drüber. Ab Baulan dann wie geplant weiter nach Storlien. Die Route ist nur ein paar km länger als die geplante, doch da der geplante Einkauf in Elga ausfällt, werden aus zwei Etappen (II & III) nun drei:

1) Sjusoen-Koppang (ca. 85 km)

2) Koppang-Taenndalen (ca 160 km)

3) Taenndalen-Storlien (ca 100 km)

 

Nu kommer snøen! Aber das wurde auch Zeit!

 

 

 

8. Januar 2007, Ankerhostel Oslo

 

Die Anfahrt per Bahn und Fähre ist problemlos vonstatten gegangen. Viel anders als in Hagen sieht es hier wettermässig aber auch nicht aus. Acht Grad (gefühlt eher 12) und Nieselregen.

Ich war heute im DNT-Buero, habe den Universalschlüssel für die norwegischen Hütten ausgeliehen und Auskünfte eingeholt. Oben in der Oslomarke liegen zwei, drei Zentimeter Schnee, nichts zum Skifahren, aber die Sommerwege sind angeblich gut zu begehen. Ich habe noch die Sommerausgabe der Wanderkarte Oslomarka Nord gekauft, und ab morgen Plan B: Ohne Pulka und Ski, nur mit Rucksack und leichten Wanderschuhen, werde ich zunächst bis Gjøvik gehen (ca 100 km). Dann werde ich relativ tief unten im Gudbrandsdalen bleiben und auf dem Pilgrimsleden bis Lillehammer laufen, das sind noch mal gut 70 km. Pulka, Ski, Skischuhe, Überschlafsack und noch ein paar Sachen habe ich im Zentralbahnhof im Schließfach deponiert, das geht für zehn Tage. Ja, die haben da echt Schließfächer, in die Ski und ganze Pulkas reinpassen. Ich hole die Sachen dann per Bahn nach Lillehammer nach.

Tja, das war nicht gerade der Beginn meines "Winterabenteuers", wie ich es mir vorgestellt hatte. Aber egal, Das Fjaell ist auch bei "Spätherbstwetter" schön. Und wenn ich jetzt schön brav meine Kilometer abspule, dann wartet als Belohnung in zehn Tagen der Schnee...

 

 

2.1.2007, Hagen

 

Und das muss alles, alles mit… Schon seit gestern läuft die große Packaktion. Gottlob muss nicht alles von Anfang an in die Pulka. Ich packe auch zwei große Nachschubpakete, die per Post nach Gäddede und Abisko gehen. Aber auch so ist die Fülle der Gegenstände, die sich vor der Tour auf dem Esstisch sammeln, beeindruckend.

 

 

 

 

 

29.12.2006, Hagen

 

Eigentlich stand der neue Bootswagen für den Gaz-Kanadier ja erst für den Sommer auf der Einkaufsliste… Doch da der Schnee in der Oslomarka nach wie vor auf sich warten lässt, habe ich heute einen kleinen Ausflug nach Zölzer in Essen-Kupferdreh gemacht.

Meine eigenen Pulka-Rollbretter sind lediglich für Überbrückungsaktionen ausgelegt, für zwei, drei km Asphalt oder Ähnliches, nicht dafür, tagelang zu gehen, das machen die Rollen nicht mit.

 

Die Acapulka und der Zölzer-Goldy bilden dagegen, wie man sieht, eine vielversprechendes Gespann, wenn auch optisch etwas gewöhnungsbedürftig. Die ersten Testreihen über Schotter und Asphalt sind zufrieden stellend verlaufen. Langsam stelle ich mich moralisch darauf ein, die ersten 180 km bis Lillehammer mit diesem »Sulky« zurückzulegen.

 

Ich habe dazu schon eine Alternativroute über Forstwege und Nebenstraßen ausklamüsert. Eventuell kann ich auch Sommerwanderwege gehen; die dürften ja rings um Oslo einigermaßen breit und ausgetreten sein. Da ich nur die Winterausgabe der Karte Oslo Nordmarka habe, werde ich die endgültige Routenwahl kurzfristig und mit Hilfe des DNT-Büros in Oslo treffen und auch die fehlenden Karten in Oslo besorgen. Aber vielleicht fällt ja auch noch Schnee! Zur Zeit sieht es allerdingsdüster aus: Nicht nur die Oslomarka ist schneefrei, auch große Teile von Hedmark, Sør-und Nord-Trøndelag. Hier ist wegen des milden Wetters in den letzten zwei Wochen viel wieder weggeschmolzen. Auch die Küste ist bis hoch nach Troms schneefrei. Erstmals seit Einführung der flächendeckenden Schneekarten durch den norwegischen Wetterdienst 1960 sind so große Flächen des Landes Ende Dezember noch kahl. In Finnmark und Indre Troms liegt dagegen mehr Schnee als gewöhnlich; ein schwacher Trost.

 

 

 

18.12.2006, Hagen

 

Nachdem ich im Oktober über den frühen Wintereinbruch im Jämtland frohlockt habe, waren die die letzten sechs Wochen eine echte Nervenprobe. Der wärmste Herbst aller Zeiten, auch in Skandinavien, kein Schnee in der Oslomarka und wenig im Lillehammerfjell. Doch letztes Wochenende sind die Temperaturen in Oslo endlich unter Null gesunken. Es wird stabiles Frostwetter vorausgesagt. Bis Weihnachten ist zwar noch kein Schnee in Sicht, doch der Dauerfrost wird hoffentlich fuer eine gute Grundlage sorgen, wenn der Schnee denn kommt.

 

 

 

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