Mein kaltes Paradies
»Warum tust Du Dir das an«?, ist die Standardfrage der Leute, die von meinem Projekt erfahren. 2000 km solo mit Ski, Zelt und einem Pulka-Zugschlitten durch den skandinavischen Subkontinent, von Oslo bis nach Vardø an der Ostspitze der Varangerhalbinsel, der einzigen Stadt der Welt in der arktischen Zone. Ich könnte mit einer Gegenfrage antworten: Warum aalen sich andere Menschen bei 40 C° im Schatten an griechischen Stränden, oder gehen in ein Reisebüro und buchen für viel Geld einen Abenteuerurlaub in exotischen Gefilden, ohne das Ihnen überhaupt auffällt, das eine »gebuchte Abenteuerreise« erstens ein Widerspruch in sich und zweitens vielleicht Urlaub, aber bestimmt kein Abenteuer ist? Warum ich also ab Januar 2007 dreieinhalb Wintermonate im skandinavischen Fjäll verbringen will? Ganz einfach: Weil es für mich einfach nichts Aufregenderes als den nordischen Winter gibt. Ich habe schon viele Tage und Nächte in den skandinavischen Bergen verbracht, bei Sonnenschein und schlechten Wetter, und ich schwöre: Ich habe mich nicht eine Sekunde gelangweilt. Und ich habe (fast) nie gefroren. Zelten im Winter macht Spaß. Leider will mir das kaum jemand glauben … Das Abenteuer liegt vor der Haustür, nur 20 Stunden Zugfahrt entfernt.
Schneestürme, schneidender Gegenwind und bitterkalte Frostnächte in der Wildnis, aber auch windstille Sonnentage im April, die das Zelt im Nu auf 18 C° aufheizen. Endlose Hochebenen und tief verschneite Täler. Einsame Zeltplätze mit atemberaubender Aussicht und gemütliche Abende in urigen Schutzhütten. Tagelange Einsamkeit, und immer wieder Begegnungen mit gastfreundlichen Menschen. Die eigene Spur durch den Schnee ziehen, bei Nebel und Whiteout oder in sternklaren Vollmondnächten. Stundenlang gehen, ohne ein anderes Geräusch zu hören als das Knirschen des Schnees unter den Ski. Nordlicht-Galavorstellungen bei -30 C°, Gourmetmenus auf dem Petroleumkocher. Das Gefühl der absoluten Freiheit und Eigenverantwortung, das ungeahnte körperliche und mentale Potentiale freisetzt. Mir fällt kein besserer Ort ein als die Wildnis des Nordens, wenn man etwas über sich selbst lernen will.
Wenn in Trekkingmagazinen und Outdoor-Foren von Lappland die Rede ist, fällt schnell der Begriff »Survival«, wo es doch eigentlich um einen Wanderurlaub von Hütte zu Hütte oder von Zeltplatz zu Zeltplatz geht. Da wird die Kungsledenwanderung zur »Expedition« hochstilisiert, als ob man das wunderbare Naturerlebnis irgendwie »aufwerten« müsste; und der Sarek wird zum letzten Refugium der wirklich echten harten Burschen. Die Skandinavier haben ein weniger spektakuläres Verhältnis zu ihrer heimischen Natur, und wo mitteleuropäische Outdoor-Enthusiasten ums »Überleben« kämpfen, praktizieren sie schlicht ihr »Friluftsliv«. Der Begriff ist mit »Freiluftleben« nur unzureichend übersetzt. Es geht um ein Leben in und mit der Natur; in den Worten des norwegischen Philosphen Arne Næss, um ein »reiches Leben mit einfachen Mitteln«. Auch für mein Projekt einer Süd-Nord-Durchquerung der Skanden hält die Friluftsliv-Philosophie einen entspannteren Begriff parat als »Expedition«: Langtur.
So werde ich also im Januar 2007 aufbrechen zu einer langen Tour durch mein eiskaltes Paradies. Da es um ein Leben mit einfachen Mitteln geht und ich sowieso kein Geld für unkaputtbare Notebooks und Satellitentelefone habe, werde ich mich auf die Natur und auf mich selbst konzentrieren, und es wird auf dieser Seite weder einen echten Tourblog noch aus dem Zelt hochgeladene Bilder geben. Sollte ich jedoch unterwegs auf nette Menschen mit Internetanschluss stoßen, werde ich versuchen, zumindest auf den Etappenpausen, unter Aktuelles einige Zwischenberichte zu liefern. Nach meiner Rückkehr im Mai werde ich dann Stück für Stück Bilder und das Tourtagebuch einstellen. Wer neugierig geworden ist, kann bereits jetzt auf diesen Seiten etwas über Planung, Routenwahl und Ausrüstung erfahren. Viel Spaß beim Lesen und Träumen, und »god tur«!
Barbara